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Wessen Städte macht Fotografie sichtbar?

Das Ruhrgebiet im Wandel und die Fotografie des Wandels

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Mit der Deindustrialisierung und dem Umbau der Hinterlassenschaften der Schwerindustrie ist im Ruhrgebiet eine fragmentierte, viel gestaltige Region entstanden, die irgendwie anders ist. Nicht Metropole und nicht Landschaft gibt die Region kein einfaches Bild ab. Sie ist aber höchst attraktiv für Fotografen. Zerfall und Aufbau, Neubeginn und Verschwinden sind fotografische Themen, die diesen Wandel dokumentieren und die Städte sichtbar machen. Aber wessen Städte? Ein Aufruf für eine neue partizipatorische Fotografie zur Darstellung des Wandels.

Fotografie I: Dokumentation der Stadt

Stadt und Fotografie sind keine neuen Freunde. Die ersten Fotografien wurden von Landschaften und Gebäuden gemacht. Auch wegen der damals noch recht langen Belichtungszeiten waren statische Objekte wie Stilleben oder eben Gebäude am besten abbildbar. Die Fotografie war damit von Anbeginn dabei, Stadt und Architektur sichtbar zu machen und für die Nachwelt zu dokumentieren. Viele der heute so wertvollen Fotografien von Städten wie Paris sind als Dokumentationen der Stadtgestalt durch beauftragte Fotografen entstanden. Anders als Zeichnung oder Gemälde stand Fotografie – zumindest damals – im Ruf eine Kopie der Wirklichkeit zu schaffen und schien deswegen das beste Medium zur Dokumentation der städtischen Umwelt zu sein.
Noch heute sind Fotografen wichtige Zeugen des Look’n Feel großer Städte. Berlin oder London sind ohne die Fotografien von Wolfgang Tillmans genauso wenig zu denken wie unser Bild des New York der 1920er und 1950er Jahre durch Fotografen wie Weegee, Robert Frank, Garry Winogrand oder Helen Levitt dokumentiert und geprägt wurden. Das Ruhrgebiet hat mit den Fotografen der Becherschule viel an ‚Bild’ gewonnen und wäre ohne auch neuere Projekte wie das BRIDGES Fotoprojekt der Emschergenossenschaft vermutlich in ganz andere Bildwelten gepackt. Die sozial und morphologisch so fragmentierte Region wurde durch die Linsen der Künstler-Fotografen vereinigt und beschreibbar gemacht. Sie sind soviel Interpretation des Künstlers wie es Angebote sind, über das Ruhrgebiet zu reden.

Fotografie II: Cowboys, die Fotos schießen

Fotografie ist hier ein im Kern einsames stolzes Geschäft. Der Fotograf durchzieht die Städte und wählt Standpunkt und Zeitpunkt seines Bildes und drückt selbstbestimmt und allein den Auslöser, um das vor ihm Seiende im richtigen Moment einzufrieren. Der entscheidende Moment, der alles davor und danach zusammenfasst auf einer fotografischen Ebene. Dieser Blick auf die Stadt – oder hier: das Ruhrgebiet – wird gefeiert auf Ausstellungen, Museen oder Magazinen. Die Abgebildeten, die Bewohner sind eingeladen, hier sich selbst im Spiegel des Genius zu sehen und ihre Umgebung – die doch ihre Heimat ist – neu durch die Augen eines Anderen zu entdecken. Dabei zielt diese künstlerische Fotografie mindestens soviel auf die Kunstwelt (und den Kunstmarkt) wie auf die abgebildeten Nachbarschaften und Städte.
Das Lesen von Ausstellungskatalogen und Interviews mit Fotografen und Fotografinnen, die sich mit Stadtthemen beschäftigen, hinterlässt bei mir oft den Eindruck von Cowboys im Großstadtdschungel. Hier überwiegt das Bild des Stadt- und Straßenkämpfers, der ‚auf Jagd’ geht, Bilder ‚schießt’, Menschen ‚stellt’ und das Harte, Krasse, Gefährliche der Stadt als Bewährungsprobe sucht. Vor allem die Milieu- und Streetfotografie ist ein Pflaster in dem das Sich-Bewähren-Müssen im fremden, gefährlichen Milieu mindestens so wichtig für den Beifall ist wie die fotografische Arbeit. Wenn Nan Goldin oder Tobias Zielony, Christer Strömholm oder Ken Schles für ihre Fotografien von Heroinabhängigen, perspektivlosen Jugendlichen oder Transvestiten gefeiert werden, spielt die morbide Begeisterung für die Autoren, die es gewagt haben, sich diesem Umfeld zu stellen, eine mindestens so große Rolle wie die Fotografien selbst. Aber auch des Draufgängertums unverdächtige Fotografen wie Thomas Struth oder Helen Levitt sind Einzelgänger, die ihre Umwelt wahrnehmen, aber nicht unbedingt als ernsthafte Partner im Bildgebungsprozess akzeptieren. Alle wesentlichen Entscheidungen im Prozess der Bildentstehung trifft der Fotograf allein bis zum elitären Moment, wenn er den Auslöser drückt und ein Bild bannt. Auch hier meistert eben der introvertierte Cowboy die Situation mit Kamera und Licht auf sich allein gestellt.

Partizipation I: „Hand over the camera!”

Mensch und gebaute Umwelt stehen auch an ganz anderer Stelle schon lange im Fokus von Kameras. Bei sozialwissenschaftlichen Forschungen, vor allem im Bereich der Stadtethnografie und Stadtanthropologie, wird die Fotografie als Medium eingesetzt, um den Forschungsprozess zu dokumentieren. Seit der Verfügbarkeit von billigen Kleinbildkameras waren diese, neben Stift und Notizbuch, unverzichtbare Ausstattung für Forschungsreisen von Anthropologen. Billig, schnell, robust und mit hohem Auflösungsvermögen ist die Fotografie immer im Spiel, wenn es um Arbeiten im Feld geht. Schon früh haben dabei einige Wissenschaftler das Potenzial der Fotografie erkannt, über die Dokumentation des Forschungsprozesses hinaus einen zusätzlichen Zugang zur Wirklichkeit der untersuchten Bevölkerungsgruppen zu bekommen. Margaret Mead beispielsweise setzte bereits 1942 die bei ihren Feldforschungen in Bali entstandenen Fotografien als eigenständige Beschreibungsebene ein.
Bahnbrechend wurden dann Versuche, die Bildproduktion mit Film- oder Fotokamera als gemeinsamen Prozess zwischen Forscher und Beforschten zu verstehen. „Through Navajo Eyes“ von Sol Worth und John Adair ist ein frühes Beispiel (1972). Das gemeinsame Fotografieren oder Filmen machte aus den Fotografien als Dokumentationsmedium Forschungsinstrumente. Die Visuelle Soziologie und Anthropologie hat seitdem eine Vielzahl von Methoden entwickelt, um gemeinsam mit den Zielgruppen Bilder aufzunehmen, zu erstellen und darüber zu diskutieren. PhotoVoice ist eine dieser Methoden. Um die Sprachfokussierung von herkömmlichen Interviews aufzuheben und den Befragten bessere Möglichkeiten zu geben, den Inhalt des Interviews zu bestimmen, werden Fotografien in Interviewsituationen eingefügt. Dabei setzt das Interview nicht auf vorformulierten Fragen auf, sondern auf von den Zielgruppen verfertigte Fotografien, bspw. über wichtige Räume für migrantische Jugendliche. Anstatt in Worten zu beschreiben, welche Räume für sie wichtig sind, machen sie Bilder dieser Räume und haben darüber, andere, bessere Möglichkeiten, ihre Geschichte zu erzählen. Im Gespräch über diese Fotografien erfahren die Forscher mehr über die Realitätswahrnehmung und deren Bedeutung für ihre Zielgruppe als in klassischen Interviews.
Noch weiter gehen Methoden wie co-directed photography oder collaborative filmmaking, bei denen Forscher und Beforschter gemeinsam die Kamera führen und die Autor-Motiv-Beziehung beim Fotografieren aufgehoben wird. Diese Methoden werden meist als „Hand over the camera“ beschrieben. Anstatt selbst Bilder der Lebenssituationen zu machen – und damit Bilder die der Logik und Wahrnehmung des Fotografen/Forschers entsprechen – wird die Bildproduktion in die Hände der Bewohner gelegt oder die Bildidee gemeinsam entwickelt. Mit häufig überraschenden Ergebnissen und einer deutlich höheren Motivation der Teilnehmer. Gerade in den Nachbesprechungen ist es oft überraschend, wie stark emotionale Reaktion der Bewohner sind, die ‚ihre’ Geschichten erkennen und erzählen zu können.

Partizipation II: Was ist partizipatorische Fotografie?

Dokumentarische Fotografie wie sie Bildjournalisten und Fotografen anwenden, zielt darauf, die Geschichten von Anderen zu erzählen durch das ‚Einfrieren’ von Momenten in gestalteten Fotografien. Diese Bilder werden kulturelle Artefakte/Dokumente, anhand derer der Betrachter diese Geschichten erleben kann. Der Fotograf übersetzt mit seinen fotografischen Fähigkeiten die erlebte Geschichten in Bilder und erzählt damit seine Interpretation der Geschichte. Wenn man stattdessen aber nun den eigentlichen Erzählern, wie beispielsweise einem ehemaligen Bergarbeiter oder den Bewohnern eines Stadtteils wie Bruckhausen, beibrächte zu fotografieren, dann könnten diejenigen, die die Geschichte erlebt haben, ihre Geschichte auch selbst erzählen. Die Einbindung der Protagonisten der Geschichten resultiert in eindrücklichen Fotodokumentationen, die das Publikum wie auch die beteiligten Menschen emotional stark berühren. Aus einem ‚fremden’ Projekt des Fotografen wird ihr Eigenes.
Der Fotograf Kyle Knight definierte partizipatorische Fotografie in seinem Text „What is the world? Participatory Photography in the Documentary Tradition“ als Fotografie, die „Menschen Fotografien machen lässt, die ihre eigenen Lebensgeschichten erzählen“. Dies, so Knight, „erweitert unser Verständnis für die Lebensumstände, die über das hinausgeht, was wir in Büchern oder Nachrichten lesen können“.

Fotografie und Partizipation: Drei Beispiele

Partizipatorisch fotografieren kann man als Fotokünstler wie auch als Sozialwissenschaftler. Grundlegend ist nicht, wofür die Fotografien gedacht sind, sondern wer daran beteiligt ist, ein Bild entstehen zu lassen. So kann die Einbindung von Bewohnerinnen und Bewohnern in wissenschaftlichen wie fotografischen Projekten auf je unterschiedliche Weise geschehen. Drei Beispiele illustrieren dies.

Fotografie und Partizipation: Beispiel I

Istanbul erlebte in den letzten Dekaden eine extrem schnelle Urbanisierung. Kleine Dörfer weit vor der Stadt gelegen wurden in wenigen Jahren förmlich von der Stadt verschluckt. Wo heute Hochhäuser von Banken oder teuren Wohnungen stehen, waren vor 20 Jahren noch Bauernhäuser und dörfliche Strukturen die einzigen Bauten in einer Agrarlandschaft. Maslak auf der europäischen Seite von Istanbul ist ein solcher Ort. Wie diese rapiden Veränderungen von den Bewohnern erfahren wurden und wie man diese Erfahrungen für die anderen Stadtbewohner (und Planer) vermittelbar machen kann, war der Fokus einer sozialwissenschaftlichen Studie des Autors. Mit vier türkischen Kollegen wandten wir die Methode des Re-Takes an. Ein Re-Take ist die möglichst exakte Kopie einer historischen Aufnahme in der heutigen Situation. Wir suchten Kontakt zu älteren Bewohnern und fragten sie nach Fotografien der Gegend, die mindestens zehn Jahre und älter waren. Zusammen mit den Fotospendern machten sich die Fotografen daran, Standpunkt der Aufnahme, den Ausschnitt, Lichtsituation und Kameratyp herauszufinden um dieselbe Aufnahme noch einmal zu machen. Nur eben zehn bis dreißig Jahre später. Die entstandenen Fotografien zeigen eindrücklich die mannigfaltigen Veränderungen – aber auch Dinge, die gleich geblieben sind. Oft waren das kleine Räume oder Elemente, die auch von den Fotospendern übersehen worden waren. Neben den Fotografien waren vor allem die Gespräche mit den Bewohnern eine wichtige Quelle, um die Veränderungen zu fassen und wie sie von denjenigen erlebt wurden, die diese Veränderungen mitgemacht hatten. Die abschließende Ausstellung war ein Publikumserfolg und wurde zur Plattform für viele Gespräche über Wandel in der Stadt.

Fotografie und Partizipation: Beispiel II

Ein anderes Beispiel ist eine 1981 am Essener Folkwang Museum gezeigte Ausstellung der Kuratorin Ute Eskildsen. Unter der dem Titel „Wie man im Ruhrgebiet lebt“ stellte Eskildsen Fotografien von fotografischen Laien und renommierten Fotografen in einer Ausstellung über die verschiedenen Lebenswelten des Ruhrgebiets vor. Dabei standen die Bilder der Experten des Alltags denen von Fotoexperten gegenüber und zeigten unterschiedliche Einblicke in das Ruhrgebiet. Engagierte Selbstbeschreibungen und objektivierende Außendarstellung ergänzten sich hervorragend und leuchteten viele Details der Ruhr-Lebenswelten aus. Durch das Aufheben der Grenze zwischen professioneller und Amateur-Fotografie wurde ein Städtegebiet sichtbar, das andere Geschichten erzählte als die von beauftragten Dokumentarfotografen gezeichneten Lebenswelten. Es brachte sowohl normale Stadtbewohner als auch Fotografie-Interessierte in die Ausstellung und konnte insgesamt für das Ruhrgebiet interessieren. Die Heterogenität der Fotografien stellte hohe Ansprüche an die Ausstellungsgestaltung und vor allem die Bildauswahl. Trotz der Masse an zur Auswahl stehenden Fotografien war es aber möglich, durch rigorose Auswahl eine prägnante und kohärente Ausstellung zu gestalten. Da die Kuratorin zudem jedem Einsender garantierte, mindestens ein Bild zu zeigen, wurde jeder Einsender zum Ausstellungsbesucher und brachte Freunde und Familie gleich mit.

Fotografie und Partizipation: Beispiel III

Wieder anders gelagert ist die fotografische Praxis einer Veteranin der partizipatorischen Fotografie. Die US-Amerikanerin Wendy Ewald fotografiert seit über 40 Jahren – oder sollte man besser sagen: Lässt fotografieren. Die Fotografin sucht für ihre Projekte Menschen, die keine Ausbildung in Fotografie oder Kunst aufweisen können und bringt ihnen das Fotografieren in Kurzworkshops bei. Dann händigt sie ihnen Kameras aus und lässt zu einem bestimmten Thema fotografieren. Für das von Frederic Brenner organisierte Projekt „Shooting Israel“ gab sie ihren Laien-Fotografen verschiedene Aufgaben als Startpunkt. Zunächst sollten sie ihre Familien fotografieren. Danach ihre Gemeinde – was oder wen sie auch immer dafür hielten. Händler des Markts von Jerusalem, Frauen aus Ost-Jerusalem, Zigeuner, junge Mädchen aus einem Militärtrainingslager, Beduinen aus der Negev-Wüste und Angestellte in Medienunternehmen wurden zu ihren Kollaborateuren. Diese Zusammenarbeit erbrachte „pictures which bring me closer to the community and broaden my viewpoint of it“, wie Wendy Ewald selbst sagte. Die Fotografin schafft damit „Kunst und Sozialkollaboration“.

„Making the City Observable“

ist der Titel eines Buches von Richard Saul Wurman, in dem er sich mit Herangehensweisen beschäftigt, die Städte sichtbar machen können. Vor allem das Nicht-Sichtbare der Stadt, wie z.B. Freundschaften, ökonomische Zusammenhänge oder Topographien der Angst (und Freude) sind eine Herausforderung an Fotografen, die Stadt dokumentieren wollen. Atmosphären, Gefühle oder nicht direkt beobachtbare Zusammenhänge müssen übersetzt werden in visuelle Phänomene, um die Stadt hinter den Gebäuden sichtbar werden zu lassen. Das ist keine besondere Aufgabe für Fotografen, ihre Kunst besteht ja genau darin, auch das nicht-sichtbare in Bilder ausdrücken zu können. Durch Ausbildung und Auswahl aber werden Fotografen bevorzugt, die das sichtbar Machen von Stadt als Aufgabe ihrer unteilbaren Autorenschaft verstehen.
Vor dem Hintergrund der sich rapide wandelnden Stadtgesellschaft geprägt durch Migration, dem Nebeneinander von Lebensstilgruppen, Durchmischung unterschiedlicher Lebensentwürfe und Schicksale möchte man aber doch die Frage stellen, welche Stadt hier eigentlich in den „Cowboy-Fotografien“ sichtbar wird. Man möchte doch noch etwas dringlicher danach fragen, ob nicht eine von Vielen autorisierte, eine partizipatorische Fotografie im obigen Sinne angebracht ist, um das Ruhrgebiet sichtbar werden zu lassen. In Fotografien, in denen Menschen ihre Lebensgeschichte erzählen und an der Entstehung der fotografischen Dokumentation darüber mindestens mitwirken, aber besser noch: sie selbst verfassen können. Sie würde die Menschen im Ruhrgebiet sicher mehr erfassen und begeistern als der nächste Gursky.

Autor: Martin Kohler ist Forscher und Lehrbeauftragter an der HafenCity Universität und vertritt dort u.a. das Fach Stadtfotografie. Fotografie als visuelles Analysetool setzt er bei seinen Forschungsarbeiten zu öffentlichen städtischen Räumen und internationalen Stadtbildern ein.

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Bildserie „Emschermiljö - Vom Strukturwandel vergessene Orte im Emscher-Gebiet“ © Joachim Schumacher

Milieufotografie

Die amerikanische Fotografin Nan Goldin hat ihr eigenes Leben in das Zentrum ihrer künstlerischen Arbeit gestellt. Zu Beginn der 1980er Jahre wurde sie bekannt mit der Diashow „The Ballad of Sexual Dependency“, formuliert in Anlehnung an das gleichnamige Lied aus Berthold Brechts „Dreigroschenoper“. Das audio-visuelle Tagebuch aus ca. 700 Fotos mit einem Soundtrack aus Popsongs und Opernarien zeigt Sex und Drogen, Liebesdramen und Nachtleben aus Goldins Leben und dem ihrer Freunde. Die ersten Aufführungsorte waren New Yorker Clubs und später dann internationale Filmfestivals. Sie ist eine der bekanntesten Vertreterin der Milieufotografie.
Matthew Marks Gallery - Nan Goldin


Nan Goldin Ausstellung im MOMA. Foto: S. Sermoneta (CC)

Street Photography

Der US-amerikanische Fotograf Garry Winogrand fotografierte während der 1960er Jahre in Manhattan alles, was ihm vor die Linse lief und schuf damit eine neue Form von Nachkriegs- und Alltagsfotografie. Er fotografierte Geschäftsmänner, Hausfrauen, Schauspieler, Sportler, Hippies, Politiker, Soldaten, Tiere im Zoo, Flughäfen, Sportstätten, Autos, Friedensdemonstrationen und unbeteiligte Polizisten, die dabei zuschauen, wie Bauarbeiter Demonstranten verprügeln.
Auch Helen Levitt, die vor allem Kinder fotografierte, die auf der Straße spielen, prägte die Street Photography maßgeblich. Levitt fotografiert die Menschen auf den Straßen von Spanish Harlem und in der Lower East Side in ihrem Alltag. Ein Mann mit Hut, der einem Mädchen im Türeingang vielleicht gerade eine Ohrfeige gegeben hat, ältere Menschen, die ihre Stühle an die Straße gestellt haben und gestikulierend miteinander reden, und immer wieder Kinder: Jungen mit Pudel- und Schiebermützen, die hinter einer Mauer hervorlugen, die Spielzeugpistole gezückt; Kinder mit Halloween-Masken, seltsam surreal; Jungen in kurzen Hosen, die auf einem Sims über einer Eingangstür miteinander kämpfen, Alle wirken wie Figuren eines Reliefs.
The Metropolitan Museum of Art - Garry Winogrand

LensCulture - Helen Levitt


Foto: V. Bezrukov (CC)

Israelischer Soldat an der Klagemauer in Jerusalem. Foto: J. Polin (CC)

Am Alltag des Krieges partizipieren

„Shooting Israel“ ist ein Projekt, das der französische Fotograf Frederic Brenner 2011 initiierte. Er lud elf international bekannte Fotografen ein, sich sechs Monate lang in Israel aufzuhalten und Bilder zusammen zu stellen, die dazu anregen, sich mit Israel auseinander zu setzen. Für sein Projekt hatte Brenner bei Privatpersonen 3,5 Millionen Dollar eingeworben. Seine Idee war es, Vielfältiges und Widersprüchliches im Alltag Israels zu dokumentieren und aufzuzeigen, da nach der zweiten Intifada sich das Bild von Israel vereindeutigt und vor allem Dafür/Dagegen bzw. Täter/Opfer Dichotomien dominierten. Viele der eingeladenen Fotografen wollten sich nicht vorab vereinnahmen lassen und betonten, dass das Ergebnis ihrer Spurensuche offen sein müsste.
The New York Times

Making the City observable

Das Multitalent Richard Saul Wurman ist Autor, Architekt, Kartograph, Hochschullehrer und Urban Designer gab 1971 ein Sonderheft der Zeitschrift „Design Quarterly“ heraus, in der er unter der Überschrift „Making the City observable“ ein Kompendium verschiedener Formen und Zugänge zum Verstehen von Stadt zusammen stellte. Dabei stellt er zum einen Daten und Datensysteme zur Dokumentation des Städtischen vor: Verkehrssysteme, Straßenverläufe, Öffentliche Gebäude, Landkarten, Historische Karten, Bodenbeschaffenheit transportieren wichtige Informationen, die Menschen dazu benutzen können, sich über ihre Umgebung zu informieren und sich zu orientieren. Die Stadt kann auf vielfache Art und Weise zum Gegenstand von Wahrnehmung werden und Wurman hat Projekte, Ideen, Bücher, Karten, Führer, Werbung und Curricula zusammen gestellt, die er als „urban data center“ versteht, mit dessen Hilfe das Öffentliche transparent und nachvollziehbar gemacht werden kann und das zugleich auch dabei helfen kann, Öffentliches und öffentliche Kommunikation zu organisieren.
Journal of Information Architecture - Richard Saul Wurman

Foto: tokyoform (CC)

Wissenswertes


Historische Aufnahme der Rue des Marmousets in Paris aus der Zeit von Eugène Atget. Foto: State Library Victoria Collections (CC)

Beginn der Stadt-Fotografie

Einer der ersten Stadtfotografen der europäischen Geschichte war Eugène Atget. Ein Großteil seiner über 28.000 Negative des alten Paris – von denen viele noch auf Glasplatten entstanden – wurde von der französischen Nationalbibliothek gekauft und bilden, zusammen mit den Werken anderer beauftragter Fotografen, den Grundbestand der fotografischen Sammlung. In großen Konvoluten ohne den Autoren festzuhalten hatten diese Fotografien den Status von Bauzeichnungen und Plänen, um den Zustand der Städte festzuhalten. Atgets Fotografien wurden so Zeugen des Umbruchs Paris von der ländlichen Großstadt zur ersten internationalen Metropole am Beginn des 20. Jahrhunderts. Heute kennen wir deutlich größere Städte, aber immer noch können wir uns die Transformation des alten Paris in die moderne Großstadt mit ihren angelegten Alleen und prächtigen Stadtplätzen durch die Fotografien von Eugène Atget oder Charles Malville vergegenwärtigen.
Bibliothèque nationale de France - Eugène Atget

Visuelle Anthropologie

Der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Sol Worth und der Anthropologe John Adair reisten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre nach Arizona und unterrichteten eine Gruppe von Navajo-Studierenden zu Themen von Kommunikation, Film, Fotografie und Dokumentation. Ziel war es, herauszufinden, ob und wie Menschen mit anderen kulturellen Wurzeln und Gepflogenheiten Film als Medium einsetzen und verstehen. Das von den Navajo-Studenten erstellte Produkt war ein Film mit dem Titel „Navajos film themselves“. Er bildete die Grundlage für das Buch „ Through Navajos Eyes“, das Worth und Adair 1972 veröffentlichten und das ein Bestseller wurde. Seit der Verfügbarkeit portabler Kameras hat sich in Anthropologie und Soziologie ein Feld von Möglichkeiten entwickelt mit Bildern zu forschen: Die Visuelle Anthropologie.
Through Navajo Eyes


"Zwischenstadt Ruhrgebiet" © Frederike Wetzels, Pixelprojekt Ruhrgebiet

Pixelprojekt_Ruhrgebiet

Die digitale Sammlung fotografischer Positionen versteht sich als regionales Gedächtnis. Pixelprojekt_Ruhrgebiet sammelt in einer Art virtueller Galerie die verschiedensten fotografischen Positionen zu einzelnen Aspekten der Region Ruhrgebiet und ihres Wandels auf einer Internetseite, strukturiert diese und macht sie somit sichtbar. Für ein hohes Maß an Qualität bürgt eine Jury von anerkannten Kunst-, Fotografie- und Regionalfachleuten. Die Originale sowie die Urheber- und Nutzungsrechte verbleiben bei den Bildautoren bzw. deren Rechtsnachfolgern. Die ausgewählten Fotoserien stammen von deutschen und internationalen Fotografinnen und Fotografen, die im Ruhrgebiet gearbeitet haben oder noch arbeiten. Unter diesen befinden sich viele Hochschullehrer, Stadt- und Zeitungsfotografen, in Ausbildung befindliche Newcomer und auch Amateure, die häufig bereits wichtige Auszeichnungen für ihre Arbeiten erhalten haben.
Die Bildstile umfassen das gesamte Spektrum der aktuellen Fotografie, vom künstlerisch Abstrakten bis zum reduziert Dokumentarischen, von der Inszenierung bis zur klassischen Reportage. Einige der Arbeiten sind schon heute Klassiker und zeigen die Region zu einer Zeit, als der Begriff „Strukturwandel“ noch nicht so gebräuchlich war (z.B. „Stadt- und Industrielandschaft im Ruhrgebiet“ von Joachim Schumacher, „Maloche – Leben im Revier“ von Michael Wolf oder „So nah – so fern“ von Brigitte Kraemer); andere Arbeiten sind erst in jüngster Zeit entstanden. Manche Serien sind das Ergebnis einer bestechenden Idee, ins Bild gebracht in wenigen Tagen (z.B. „Heroen des Ruhrgebiets“ von Jens Nieth und Arno Schidlowski oder „Phoenix“ von Ben Plefka), andere sind das Produkt langer, zum Teil bis zu 30jähriger Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema (z.B. „Arbeitswelt“ von Manfred Vollmer). Die meisten der Arbeiten setzen sich thematisch mit der neuen Industriekultur auseinander, andere mit Urbanität, Sozialem, Arbeit, Kultur, Freizeit und Sport, mit Natur und Landschaft. Gemeinsam sind den Fotoserien die Intensität und Originalität der Auseinandersetzung.
http://www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de

BRIDGES Fotoprojekt Emscher Zukunft

Der Umbau der Emscher und ihrer Zuflüsse ist ein wasserwirtschaftliches und ökologisches Jahrhundertprojekt. Er trägt dazu bei, das Lebens- und Arbeitsumfeld im gesamten Emschertal nachhaltig zu verbessern und der gesamten Region in einem fast drei Jahrzehnte dauernden Prozess ein neues Gesicht zu geben. Ziel des Fotoprojekts ist es, diesen regionalen Wandel sichtbar zu machen, ihn festzuhalten und ihn aktiv zu begleiten. Fotografie kann dokumentieren, kommentieren, fokussieren und vermitteln. Sie wird so einen wichtigen Beitrag für den Prozess der Umbauplanung leisten.
BRIDGES Fotoprojekt hat zwei Bestandteile: den jährlich verliehenen Fotopreis und den Fotoprojekt-Dialog. Der Fotopreis richtet sich an Fotografen, die sich mit ihren Arbeiten an der Sammlung beteiligen wollen. Der Fotoprojekt-Dialog steht für die Weiterentwicklung und die Auseinandersetzung mit dem Fotoprojekt als interdisziplinäre Plattform. Alle Interessierten sind eingeladen, sich einzubringen und über den Fotoprojekt-Dialog die Zukunft des Fotoprojekts mitzugestalten.
www.bridges-projects.com


Bildserie „Emschermiljö - Vom Strukturwandel vergessene Orte im Emscher-Gebiet“ © Joachim Schumacher