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Zwischen Anonymität und Heimat

Der fotografische Blick auf die Peripherie

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In urbanistischen Diskussionen, die sich der Peripherie zuwenden, bleibt die künstlerische Fotografie marginalisiert. Dabei nimmt gerade sie die Besonderheiten des Gewöhnlichen in den Blick und schult das Auge für die Vielfalt kleiner Fluchten.

Altstadt und Agglomeration

Die Mehrzahl der Bewohner einer großen, gar städtebaulich bedeutenden Stadt lebt heute nicht im Zentrum, sondern in Quartieren außerhalb der historischen Altstadt, in denen sich das Leben ganz anders abspielt als inmitten von glanzvoll restaurierten Bauwerken, malerischen Brücken und den Fußgängern zurückgegebenen Plätzen. Früher oder später kommt daher auch für den Städtereisenden, der nicht nur einem klangvollen Namen seine Referenz erweisen will, die Frage auf, wie sich der gewöhnliche Alltag der Stadtbewohner eigentlich gestaltet. Und als tatsächlich authentisch erweist sich dann eben nicht das kaum mehr bezahlbare Wohnen in der Altstadt, sondern das Leben in der Agglomeration, der Vorstadt, der Siedlung oder jener Mischform aus Stadt und Land, die in der Regel von beidem nicht eben das Beste mitgebracht hat.
In den Urbanistikdebatten der letzten 25 Jahre ist viel von „Bildern“ die Rede, inneren Bildern, welche den Bewohnern der Peripherie, die seit der von Thomas Sieverts in den späten Neunziger Jahren vorgenommenen Neubestimmung gerne auch „Zwischenstadt“ genannt wird, zur Selbstversicherung und Autonomie noch immer fehlen würden. Mehr und mehr wird der „Mythos der alten Stadt“ als ein durch Reiseberichte, Literatur und Malerei erzeugtes Sehnsuchtsbild deutlich, das sich von den tatsächlichen, historischen Lebensbedingungen in einer Stadt oder den restaurierten und sanierten Stadtkernen grundlegend unterscheidet. Zu laut, zu engräumig, zu umtriebig, zu stinkend, zu ungesund wären indes die früheren Städte für den heutigen westlichen Verfechter von Urbanität. Thomas Sieverts geht so weit, die Verdichtung von Lebens- und Arbeitssituation in der historischen Stadt mit der Lage in den dicht besiedelten Megatowns unterentwickelter Länder zu vergleichen.
Allerdings fristet in diesen Diskussionen um das Leben in den neu entstandenen Regionen der Zwischenstadt, bis auf wenige Ausnahmen, die Fotografie immer noch ein Randdasein. Häufig werden selbst geknipste Fotos der Autoren zur Illustration herangezogen oder man beklagt, so Fotografie überhaupt ein Status jenseits der Dokumentation zugewiesen wird, dass Fotografen, die sich künstlerisch der Peripherie nähern, nicht mehr zuwege bringen würden als sie einmal mehr als unwirtlichen, der Ordnung und Individualität entbehrenden Lebensraum zu zeigen.

Ich fotografiere, um zu sehen, wie die Welt fotografiert aussieht

Tatsächlich liegt das Augenmerk vieler Fotografen, die in der Tradition der amerikanischen „New Topographics“ stehen, zunächst auf strukturellen Gemeinsamkeiten, einer Art mentalen Karte, die sich – potentiell weltweit – vor ihnen ausbreitet: „Ich sehe, wie die Welt fotografiert aussieht“, schrieb schon Garry Winogrand.
So in „Anonymizaton“ (2012, Kehrer Verlag) von Robert Harding Pittmann, der Fertighäuser (mit minimalem Spielraum für die Gestaltung) zeigt, den Schwung der Begrenzungsstreifen leer gebliebener Parkbuchten oder den genügsam begrünten Kreisverkehr vor den blauen Ikea-Häusern inmitten von großzügig angelegten Parkplätzen, die in wasserarmen Gebieten den Boden weiter versiegeln oder künstlich bewässerte und egalisierte Rasen in Golfanlagen. Anders als beim Anblick von Schienen und Zügen zu früheren Zeiten kommt da kein Fernweh auf, sondern es ist eher die Trauer des trotz aller Mobilität gar nicht erst Weggekommenseins: „Alles ästhetisch anspruchslos, verlassen und ökologisch noch problematischer als zuhause!“, ist man versucht zu urteilen. Lediglich Kräne, die in hoffnungsvollen Frühlingsfarben wie Krokusse in einen tiefblauen Himmel ragen, entführen rein visuell aus der Tristesse. Als ebenfalls programmatisch für diese Sichtweise steht auch der Fotoband „Die deutsche Aussicht“ von Oliver Kern (2012, Hatje Cantz), der in Bildausschnitt, Komposition, aber auch der Körpersprache ihrer Bewohner und Betrachter das Belanglose der Alltagserfahrung in lieblos gestalteter Umgebung besonders hervorkehrt.

Wird man in naher Zukunft auch das Reizlose liebgewinnen?

Wird es uns mit diesen flächendeckenden Stereotypen von Wohnformen und Infrastruktur, ungeachtet ihrer Bedrohung für die Varietät der Umwelt, einmal so ergehen wie mit anderen Objekten des täglichen Gebrauchs?
Denn manch über Jahre vertraute „Begleiter“ des täglichen Lebens bleiben, ob wir das wollen oder nicht, gerade wenn sie verschwunden sind, als stabilisierende und idealisierte Konsum-Faktoren unseres längst vergangenen Alltags im Gedächtnis. Bei Erkennungsmelodien von abgesetzten Fernsehsendungen ist das so. Oder – um auf eine visuelle Verlusterfahrung aus meiner Region zurückzugreifen: Bis heute wird der fehlende Anblick des Gasbehälters beklagt, den man bis zu seinem inzwischen schon Jahrzehnte zurückliegenden Abriss vom Schwarzwald kommend, auf der Autobahn als erstes von meiner Geburtsstadt zu sehen bekam. Seine markante Silhouette fehlt dem Fahrer (wohlgemerkt dem Autofahrer, nicht dem Fußgänger).
Könnte man also auch in Frank Breuers Container oder Firmenlogos, die isoliert in reizarmer Umgebung wie Denkmäler oder Plastiken statt auf einem Sockel auf einem Pfahl thronen („Logos, Warehouses, Containers“ 2006, Fiedler Contemporary), einen schützenswerten Status quo erkennen? Er würde nicht nur an die Absurdität unseres modernen Lebens erinnern, sondern könnte möglicherweise in nicht allzu ferner Zukunft so emotional besetzt sein wie das DDR-Ampelmännchen?
Aber darf das überhaupt alles zu einer Frage der Gewöhnung werden – und irgendwann ist es zumindest zu einem Teil der eigenen Geschichte geworden, die durchaus in einer Altersgruppe kollektive Erinnerungen auszulösen vermag?
Die Frage nach der Gewöhnung – das betrifft indes auch unser Verhältnis zur Landschaft. Wir müssen uns überlegen, wie wir damit umgehen werden, dass es Landschaft in vielen Regionen nur noch in Ausschnitten zu sehen gibt, da es bald nicht mehr unbebaute Landschaft ist, die Dörfern und Städte umschließt, sondern noch frei gebliebenes Land mehr und mehr zum Residuum zwischen bebauten Flächen gerinnt.
Zusammenhängende Landschaftsgebiete gibt es, auch in Deutschland, indes schon noch. Ihre genuine Schönheit konnte lange Zeit nicht unbefangen wahrgenommen werden. Deutsche Landschaft durfte nur unter Vorbehalt schön gefunden werden, zu schwer lastete auf ihr die deutsche Geschichte, zu schnell geriet man in den Verdacht des Bieder-Gestrigen, des Romantisieren-Wollens und Verkitschens. So schreibt dann auch Peter Bialobrzeski im Geleitwort zu seinem Fotobuch „Heimat“ (2005, Hatje Cantz), er habe der Idee nachgegeben „... etwas 'schön' zu fotografieren, was nicht schön zu sein hatte: die deutsche Landschaft.“ Da sieht man dann wie in altniederländischer Landschaftsmalerei Panoramen von der Ostsee bis zum Schwarzwald – stets mit tätigen Menschen darin, die sich allein, zu zweit, oder in wohl bemessenem Abstand auch zu vielen, an dieser Landschaft erfreuen. Ganz anders als in seinem Band „Lost in Transition“. Dort werden weltweit uniformierter Städtebau, groteske Schilderlandschaften, der Slum vor dem Hochhaus gezeigt, stets, wie auch bei Robert Harding Pittmann, ohne Menschen. „Leere Welt. Über das Verschwinden der Menschen aus der Architekturfotografie“ (2012, Manutius) heißt dann auch der Titel eines Buches von Andreas K. Vetter. Dieser in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzende Prozess, so Vetter, zielt darauf ab, mit der Fotografie vor allem nicht vom „architektonischen Objekt“, dem „anvisierten Ideal“, abzulenken.

Balance zwischen Komplexität und Unterforderung

Ob menschenentleerte, unwirtliche Infrastruktur gezeigt wird oder gelebtes Wohnen und Arbeiten lässt ein sehr unterschiedliches Bild einer Region entstehen. Das Leblose, Menschenleere kommt natürlich nicht von ungefähr, sondern ist ein Zustand, auf den man, zumindest an der Peripherie, zur Arbeitszeit nicht lange warten muss. Aber ist all das nicht auch eine Frage der Konditionierung und der gewählten Form des Zusammenlebens? Etwas, das sich verändern ließe oder das mit den Bewohnern dem sozialen Wandel unterliegt? Rufen Fotografien, die nur die zur Verfügung stehende Infrastruktur, nicht aber die Menschen zeigen, zum aktiven Bewohnen auf oder stabilisieren sie die Ratlosigkeit zu einer Dauer-Klage, die seit Alexander Mitscherlichs „Unwirtlichkeit der Städte“ noch aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in das einundzwanzigste hinüberhallt? Der Architekt Holger Reiners hat in seinem Buch „Brauchen wir noch Architekten?“ (2012, DVA) die schwierige Situation für den durch virtuelle Kommunikationsangebote und fordernde Arbeitssituationen oft an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit gekommenen Menschen des 21. Jahrhunderts beschrieben: Eine gewisse Entlastung von Komplexität, besonders im visuellen Bereich, scheint zur Orientierung notwendig zu sein. Gerade auch im heimischen Feld, selbst wenn es als ästhetisch unbefriedigend empfunden wird, möchte man am liebsten alles so belassen, wie es eben ist. Aber visuelle Unterforderung ist schädlich, ja beleidigend.
Dies scheint auch ein Problem fotografischer Systematisierung zu sein. Ein Tableau oder eine Werkgruppe kann für die Eigentümlichkeit einer bisher übersehenen Formensprache, die einem bestimmten Objekt eigen ist, sensibilisieren oder aber sie durch serielle Wiederholung desavouieren. Visuelle Komplexität und eine vom Gebrauch verliehene Patina, wie bei den von Bernd und Hilla Becher als ästhetische Objekte und Kulturgut entdeckten Hochöfen und Wasserspeicher ist indes nötig, um in einer Bildserie Abweichungen von einem Prototyp als ästhetische Spannung goutieren zu können („Anonyme Skulpturen. Eine Typologie technischer Bauten“, so der programmatische Titel einer frühen Publikation der Bechers). Bei Containern, Reihenhäuser vor ihrem Bezug, oder rasterförmigen Straßenführungen und Siedlungen wird das schon schwieriger. Oder es bedarf – wie bei der Arbeitsweise der Bechers – nicht des schnellen Zugriffs, sondern erfordert jahrelange systematisierende Erfassung, Hingabe und anspruchsvolle visuelle Inventarisierung.

Herz für das Imperfekte

Man kann sich dem Spannungsfeld von visueller Komplexität und Entlastung in der Architektur der Peripherie mit Witz nähern. So etwa wie es Gerhard Vormwald in einigen seiner über 90 Fotografien umfassenden Architekturcapricchos „Concrete illusions“ (www.gerhard-vormwald.de) tut, wenn er das Menschen innewohnende Bedürfnis nach individueller Gestaltung, nach der kleinen „Heimat“ digital umsetzt. Seine auf dem Land oder in der Stadt gefundenen, etwas verdrossen herumstehenden Häuser werden mit all dem ausgestattet, was das Herz eines Bauherren höher schlagen lässt, der aus seinem Häuschen ein individuelles Album alteuropäischer Behaglichkeit machen möchte, ohne die Strenge formaler Konsequenz, die die Moderne ihm abverlangt und ohne die verquälte Distanz der Postmoderne. Damit dies, wie geschehen, auf dem Bild gut geht, ist indes ein fein ausgebildetes Proportionsgefühl notwendig.
Solch Lockerheit und unbekümmerter Witz beweist Herz für das Imperfekte, das Basteln und Werkeln, das an archaisch- autonomen Beschäftigungen gleich nach dem Sammeln und Jagen kommt. In den uniformen Siedlungen an der Peripherie ist dies zunächst nur bedingt vorgesehen oder wird, sollte sie jemand allzu individualistisch praktizieren, von den Nachbarn als soziale Abweichung beäugt oder auch als unbeholfener Dilettantismus von Architekturkritikern an den Pranger gestellt. Nur allmählich beginnt sich das Blatt zu wenden, wird der Blick auf die Speziallösungen aus dem Baumarkt wieder etwas liebevoller. Und man entdeckt das Ausbessern und Basteln, selbst wenn es, was oft der Fall ist, ästhetisch missfällt, doch als einen Akt der Autonomie und Selbstermächtigung. Und ist nicht manch einer von der Kernstadt aufs Land oder in die Siedlung gezogen, um mehr Raum fürs ungestörte Werkeln in Keller oder Verschlag zu haben?

Lernen von New York und Mülheim

Rückgewinnung von Autonomie thematisieren indes zwei im Prinzip konträre Arbeiten. „Von New York lernen. Mit Stuhl, Tisch und Sonnenschirm“ (2013, Hatje Cantz) von Susanne Lehmann-Reupert – leider mit für das Metier üblichen selbstgeknipsten Fotos – zeigt kleine Angebote, die wieder in die Metropole Einzug halten, um das einzulösen, was Thomas Sieverts unter Urbanität jenseits der Hektik von Konsummeilen einfordert: Toleranz, Weltoffenheit, Neugier und „einen besonderen Anlass, um sich entfalten zu können“. Dazu tragen spontan herbei geschaffte Bänke und Stühle (gerade auch jenseits eines fest installierten Stadtmobiliars) bei, von den Bewohnern aufgestellte Kübel, Gemüseanbau auf dem Dach, Spiele oder Picknick im Freien. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass dies nicht verboten ist, kein Geld kostet oder von Nachbarn torpediert wird, die sich gestört fühlen, weil etwas anders ist als gewohnt. Und es bedeutet, dass die Bewohner sich nicht wie Touristen verhalten, sondern sich für ihre Hinterlassenschaften verantwortlich fühlen, sich für nicht kommerzielles Tun begeistern und keiner auf die Idee kommt, daraus prompt wieder ein Geschäft machen zu wollen.
Ein anrührendes Beispiel aus dem Ruhrgebiet zeigt Andreas Weinand mit „The Good Earth“ (2013, Peperoni Verlag). Hier sieht man zwei alte Leute, die nach einem im Büro verbrachten Berufsleben, das Bio-Gärtnern an der Peripherie, auf einem Acker zwischen Essen und Mülheim für sich entdeckt haben. Ihre Körperhaltung bei der Arbeit ist nicht die von Bauern, die lebenslang auf dem Feld geackert haben, sondern die von Amateuren, im alten Sinn des Wortes. Sie frönen einer, wenn auch arbeitsintensiven und Rücken belastenden Liebhaberei, die sie selbst gewählt haben, ohne sich gleich wieder einem Schrebergartenreglement zu unterwerfen. Als Rentner dieser Generation geht es nicht mehr um die Sicherung der Existenz, auch wenn die Ausgaben sich vielleicht doch einspielen sollten, sondern darum etwas Lebendiges entstehen zu lassen. Dies geschieht im Kontrast zum bisherigen Leben und hat von der gelassenen Haltung, der Neugier auf eine alternative Lebenserfahrung etwas durchaus Urbanes, im alten, weltoffenen, experimentierfreudigen Sinn.

Autorin: PD. Dr. Andrea Gnam, Publizistin und Privatdozentin (HU Berlin). Berufung in die Deutsche Fotografische Akademie (als Fototheoretikerin), Blog mit veröffentlichten Essays, Reden und Kritiken zur Fotografie.

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Foto: "Dazwischen" / © Katharina Liebsch

"Technische Gebäude als Zwischenräume"

Es gibt Gebäude, die von außen unscheinbar wirken, aber im Inneren von großer Bedeutung sind. Die Pumpwerke der Emschergenossenschaft in Dortmund, die die Stadt Tag und Nacht vor Überschwemmungen schützen, sind solche Orte. Sie erschließen sich erst bei genauerer Untersuchung, was nicht so einfach ist, denn die meisten Bürger der Stadt haben hier keinen Zutritt.


Foto: "Technische Anlage der Emschergenossenschaft" / © Jérome Gerull

Perspektivwechsel

Ob es um das Vergnügen geht, an kalten Wintertagen im warmen Wasser des Hallenbads entspannt einige Runden zu schwimmen oder um die Gründung von Dörfern und Städten in Gegenden, die unter dem Meeresspiegel liegen: Wasserwirtschaftliche Technik beeinflusst maßgeblich regionale und städtische Entwicklungsprozesse – im Kleinen wie im Großen. Gerade in Phasen des Wandels, wie sie die Emscherregion mit dem Emscher-Umbau zurzeit erlebt, kann das Bewusstsein für die technischen Hintergründe und Voraussetzungen für diese Prozesse den Menschen helfen, ihre eigene Lebensumwelt besser zu verstehen.
BRIDGES Fotoprojekt hatte zusammen mit dem Kooperationspartner SRL Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung wieder zu einem interdisziplinären Dialog eingeladen, bei dem Planer, Fotografen und andere Interessierte darüber diskutierten, auf welche Art und Weise man dem Bedürfnis der Bürger nach dem Verstehen wollen am besten entsprechen könnte. Denn darüber, dass dieses Bedürfnis vorhanden ist, bestand am Ende der Veranstaltung kein Zweifel mehr.


Foto: "Urban Wetlands" / woodleywonderworks (CC)

Foto: "Wohnhaus Buttisholz" / Andreas Scheuch (CC)

Formensprache

Kunst, Fotografie, aber auch Bauwerke und Gebrauchsgegenstände, wie z.B. Autos oder Besteck, sind in Entsprechung zu Prinzipien von Funktion und Ästhetik gestaltet. Sie folgen einem Stil, der Aufbau und Anordnung von Elementen und Muster organisiert. Verbunden damit ist eine Art Wiedererkennungseffekt, der Zuordnungen und Identifizierung ermöglicht. Das Verstehen von Formensprache kann durch die Analyse der „visuellen Grammatik“ oder der „Bildgrammatik“ erfolgen.


"Stadtacker und Bio-Gärtner"

Am Rande der Städte haben sich weltweit landwirtschaftliche Aktivitäten, ja sogar agrarische Produktionszonen etabliert. „Urban Farming ist mittlerweile von der Hobby- und Freizeit-Beschäftigung zu einem Wirtschaftsfaktor geworden. So wird beispielsweise in der kubanischen Hauptstadt Havanna, gut die Hälfte aller Nahrungsmittel vor Ort angebaut. Zu Beginn etablierte sich die Landwirtschaft am Rande der Stadt aufgrund des US-Embargos, das es dem Land erschwerte, Güter zu importieren. Doch inzwischen ist die städtische Landwirtschaft zur Normalität geworden; allerdings eine landwirtschaftliche Normalität ohne künstlichen Dünger, genveränderte Pflanzen und große Landmaschinen. Die können sich die Kubaner finanziell nicht leisten und sie passt auch nicht zu den kleinräumigen Flächen. So wird aus der Not eine Tugend…


"Heimwerken"

Über die ästhetische Qualität heimwerkerischer Produkte ist schon viel gestritten worden und die Ergebnisse dieses nicht-professionell betriebenen Handwerkertums werden in der Form besonders auffallender Gartenzäune oder Schrebergarten-Hütten immer wieder auch fotografisch dokumentiert. Schönheit hin oder her, das Heimwerken ist auf jeden Fall ein Massen-Phänomen. In Deutschland soll es 31 Millionen Heimwerker geben. Dabei machen Frauen, wie Umfragen des Bremer Instituts für Freizeitforschung zeigten, vor allem Gartenarbeit per Hand, während Männer überwiegend Maschinen einsetzten, um Holz- und Zementierungsarbeiten durchzuführen. Das Heimwerken nahm 1960 mit der Filiale von „Bauhaus“ seinen Anfang. Vielleicht deutet die Tatsache, dass zwei große Baumarkt-Ketten, „Praktiker“ und „Max Bahr“, kürzlich Insolvenz anmelden mussten, den Niedergang des Heimwerkens an?


"Urbanität"

Urbanität ergibt sich aus der baulichen und architektonischen Struktur sowie deren Funktionalität und Nutzung. Die städtische Lebensweise prägt nicht nur die Bewohner einer Region, sondern auch die Region selbst. In diesem Verständnis des Begriffs der Urbanität ist das Ruhrgebiet eine besonders spannende Region - die städtebauliche Dichte, die Prägung der Region durch den Bergbau und die aktuellen Entwicklungen des Strukturwandels waren und sind einzigartig.

Interviews zur Urbanität im Rahmen der Veranstaltung RUHRBAN/ZWISCHENORTE.


"Zwischenstadt"

In der Stadtgeographie ist die Zwischenstadt ein Begriff zur Beschreibung von Formen der Urbanität und ihrer Zwischenbereiche, welcher im Wesentlichen von dem deutschen Architekt Thomas Sieverts geprägt wurde. Der Begriff versucht eine Siedlungsstruktur zu definieren, die weder konkret der Stadt noch dem ländlichen Raum zugeordnet werden kann. Auch eine Einordnung als Vorort oder Außenbezirk trifft den Charakter dieser Gebiete nicht genau genug.
Die Zwischenstadt besitzt mehr Eigenständigkeit als Außenbezirke und kann sich von der Kernstadt infrastrukturell unabhängig machen. Eine Definitionsgrenzen der Zwischenstadt ist nicht genau festgelegt. Sie besitzt in der Regel keinen historischen Siedlungskern und ist in kurzer Zeit entstanden. Auch die Ausrichtung und Entwicklung der Zwischenstadt erfolgt relativ ziel- und planlos – die Folge ist eine „Verstädterung“ sowie „Zersiedelung“ des ländlichen Raumes. Um Auswirkungen und notwendige Handlungsschritte untersuchen zu können, wurde unter der Leitung von Thomas Sieverts ein Forschungskolleg ins Leben gerufen.


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Wissenswertes


Foto: "Entlang" / © Katharina Liebsch

„New Topographics"

Mit „New Topographics“ ist eine Stil-Richtung der Fotografie, die in der Mitte der 1970er Jahren in den USA etabliert wurde. Hier werden Landschaften oder ausgewählte Orte und Situationen nicht länger unter den Gesichtspunkten von Schönheit, Einmaligkeit oder Ästhetisierung präsentiert. Stattdessen rücken die Eingriffe der Menschen in Natur und Landschaft in den Blick. Eine dokumentarisch ausgerichtete Sicht auf Plätze und Ausschnitte von Landschaft – häufig am Rande von Städten – thematisiert Gewerbe, Transport und Infrastruktur, also das, was häufig als ‚verschandelte Natur’ bezeichnet wird. Ausdrucksformen und Ergebnisse von Industrialisierung sind deshalb ein häufiges Motiv und ein gern gewählter Gegenstand dieser Art von sachlicher und dokumentarischer Bildsprache.


"Die Einsamkeit der Nutzer"
(PD. Dr. Andrea Gnam © Neue Zürcher Zeitung)

Architekturfotografie begnügt sich nicht mit der präzis erfassten Wiedergabe der Anatomie eines Gebäudes. Die Standpunkte reichen vom praxisorientierten Zugang über Freiräume der Imagination bis hin zum Augenmerk auf Rückbau und Absurdität entfesselter Bautätigkeit. (…) Sofern Architekturfotografie heute nicht als klassische Auftragsarbeit lediglich Ansichten zur dokumentarisch-werbenden Identifizierung bietet oder Bauten wie Stars in Szene setzt (vor wolkenlosem Himmel in leichter Untersicht), ist sie offen für den Raum, den Architektur formt und umschliesst. Zum Artikel…


Foto: Oliver Kern "Die deutsche Aussicht" / © Hatje Cantz Verlag

Literatur

Robert Harding Pittman
„Anonymization“



Der deutsch-amerikanische Fotograf Robert Harding Pittman begann vor zehn Jahren in Los Angeles, dem Moloch von Stadt, der keine Grenzen und kein Zentrum hat. Ziel war es, die „globale Ausbreitung urbaner Siedlungsentwicklung“, so lautet der Untertitel seiner Arbeit, fotografisch zu dokumentieren. Dazu reiste Pittmann um die Welt und fand in Las Vegas, Spanien, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Dubai und Südkorea Auswirkungen eines „L.A.-typischen Planungsstils“ - sechsspurige Autobahnen, Parkplätze, Einkaufszentren und groß angelegte Siedlungen mit Golfplätzen. Beim Betrachteten seiner Fotos wird unmittelbar deutlich, dass hier regional ganz unterschiedlichen Orte und Siedlungen ein anonymer Stempel aufgedruck wurde. Die neu geschaffenen Orte sind anonym in dem Sinne, dass sie regionale Besonderheiten, z.B. lokale Alltagskultur und landschaftliche Gegebenheiten ignorieren und so zu Entwurzelung und Entfremdung beitragen. Zugleich dokumentieren die Fotos von Pittmann auch die Krise eines verselbstständigten globalen Bau-Booms, der nicht nur in der Form einer Finanzkrise an seine Grenzen kam, sondern auch die Psyche der Menschen angreift. „Anonymisierung“, so ahnt der Betrachter dieser Fotos, macht einsam, unglücklich und feindselig. 
Robert Harding Pittmann: Anonymization. Kehrer Verlag, 2012, 120 Seiten, Texte von Bill Mc Kibben, Alison Nordström, Anette Baldauf und Galina Tachieva. Gebundene Ausgabe, 24,1 x 24,1 cm, Text in englischer Sprache.





Alexander Mitscherlich
„Unwirtlichkeit der Städte“



In seinem Buch „Die Unwirtlichkeit der Städte“ beschreibt Alexander Mitscherlich in den 1970er Jahren eine eintönige und inhumane Stadtgestaltung und den entsprechend tristen Alltag der BewohnerInnen. Inmitten von funktionellen Neubauten fällt es, so zeigt er, schwer, Alltagskultur zu realisieren. Stattdessen wächst bei den AnwohnerInnen das Gefühl von Entfremdung und Isolation. Heute, so ließe sich in Anlehnung an Mitscherlich sagen, ist der urbane Raum ein Ort der Exklusion, beispielsweise dort, wo urbane Freiräume und Ruhezonen nur noch denen angeboten werden, die sich ihn leisten können. Wenn städtischer Raum zum Produkt von Profitorientierung in der Stadtentwicklung wird, dann werden Städte nicht nur „unwirtlich“, sondern es zeichnet sich sogar ein Ende des öffentlichen Raums ab. Die Rede von den „nach-öffentlichen Räumen“ deutet dies an.


Oliver Kern



„Die deutsche Aussicht“



Bis zum Januar 2013 waren in der Essener Zeche Zollverein die Bilder des Fotograf Oliver Kern zu sehen. Die Ausstellung basiert auf Aufnahmen, die innerhalb von zehn Jahren auf Reisen durch die Republik entstanden sind. Aber die Suche nach „deutschen“ Bildern, also nach Bildern, die Deutsches und Deutschland repräsentieren, hat nicht große Wahrzeichen und plakative Eindeutigkeit hervorgebracht, sondern kleine Eindrücke mit symbolischer Qualität. Zu sehen sind Abbildungen von zufälligen und vorüber gehenden Begegnungen auf Parkplätzen und Veranstaltungen, in Supermärkten. Gezeigt werden Menschen in den Strukturen und Landschaften, in denen sie leben. In der Dokumentation des Alltäglichen wird Grundlegendes abgebildet. 
Oliver Kern: Die deutsche Aussicht. A German View. Katalog zur Ausstellung: UNESCO-Welterbe Zollverein Schacht XII, Kohlenwäsche (A14), Portal der Industriekultur, Rundeindicker, 2012/2013. Dtsch.-Engl.


Andreas Weinand
„The Good Earth"

„The Good Earth" ist nichts anderes als ein Acker an der Stadtgrenze von Essen und Mülheim. Andreas Weinand entdeckte diesen wundervollen Ort im Sommer 1998. Da war eine Wiese mit Schafen, das Treibhaus mit vielen Tomaten und daneben der Garten. Er setzte sich auf eine Bank um die schöne Atmosphäre zu genießen. Nach einiger Zeit erschienen zwei Senioren und ein Gespräch begann. Der Fotograf erfuhr, dass Margret und Walter zusammen mit ihrem Freund Erwin seit vielen Jahren, bei Wind und Wetter, 365 Tage im Jahr, hier ihre Pflanzen und Tiere versorgten. Sie hätten ihren Lebensabend im Sessel verbringen können, aber das wäre ihnen zu langweilig gewesen. Hier im Ruhrgebiet wollten sie lieber ökologischen Landbau betreiben.