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Wie zusammen wohnen?

Nachdenken über Nachbarschaft

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Nachbarschaft meint nicht nur eine räumliche Nähe zum Anderen, sondern ist immer auch eine Idee, eine Ideologie: von emotionaler Wärme oder Kälte, von Gemeinschaft oder Gesellschaft, von der empathischen Begrüßung des Fremden bis hin zur Angst vor ihm. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den damit verbundenen gesellschaftlichen und räumlichen Veränderungen haben Soziologen, Philosophen, Architekten und Stadtplaner sich mit der Frage auseinander gesetzt, wie die Menschen zusammen wohnen sollen.

Kulturen der Wärme, Kulturen der Kälte

Als 1836 in der russischen Zeitschrift Teleskop Pjotr Tschaadajews Erster Philosophischer Brief erschien, erklärte man den Autor für verrückt und stellte ihn unter Hausarrest. Fast täglich kam ein Arzt auf Befehl des Zaren vorbei und erkundigte sich nach der Gesundheit des „Kranken“. Tschaadajew hatte in seinem Brief die Behauptung aufgestellt, Russland sei, im Vergleich zum Westen, eine tabula rasa, geschichtslos, und vor allem sei es hoffnungslos hinterher.
Tschaadajew hat Glück gehabt, dass der Zar sich so um ihn sorgte; dem Redakteur der Zeitschrift, die seinen Brief druckte, ist es schlechter ergangen, denn er wurde nach Sibirien verbannt. Dieser Umgang des Zaren mit seinem Philosophen zeugt von einem Befund, den die sogenannten Slavophilen im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts argumentativ nutzten: Russland sei, im Unterschied zum Westen, eine „warme“ Kultur, die Menschen gingen familiär miteinander um, bildeten eine Gemeinschaft, im Gegensatz zum Westen, der zersplittert, distanziert, „kalt“ und keine familiäre Gemeinschaft, sondern eine Gesellschaft sei. Der Zar, der sich als pater patriae seiner Bürger wie ein Vater annahm, erschien als Verkörperung dieser auf Nähe, Intimität, Wärme und Familiarität basierenden Kultur.
Mit diesem kulturtypologischen – zugegebenermaßen stark vereinfachten – Modell einer auf Nähe und Wärme begründeten Kultur im Vergleich zu einer Kultur, die auf Distanz und Kälte basiert, sind zwei Konzepte von Nachbarschaft angesprochen: eine Nachbarschaft, die die in das Wort eingeschriebene Nähe wörtlich nimmt, und ein Konzept, das dem zuwiderläuft. Die Figur des Nachbarn ruft zugleich Vertrauen und Zugehörigkeit hervor, enthält aber auch das Gegenteil, denn damit verbunden ist zugleich die Vorstellung von zu viel Nähe und zu viel Intimität. Nachbarschaft oszilliert zwischen dem Ideal einer friedlichen, sicheren und ähnlichen Gemeinschaft und der Wirklichkeit skandalöser Konfrontation.

Gemeinschaft: Ideal oder Schreckgespenst?

Über die Idee von Nachbarschaft, als begehrter Zustand oder auch als Schreckgespenst, haben sowohl Philosophen als auch Soziologen nachgedacht. In einer Debatte, die in den 1870er Jahren begann, konfrontierten sie die Konzepte von Gemeinschaft und Gesellschaft miteinander: 1877 publizierte Henry Lewis Morgan sein Buch Ancient Society, Or: Researches in the Lines of Human Progress From Savagery Through Barbarism to Civilisation, wo er verschiedene Gesellschaften in unterschiedlichen Entwicklungsphasen untersucht hat. Dabei hat er zwei Grundtypen des Zusammenlebens herausgefiltert: die societas, die auf persönlichen Beziehungen begründet ist, und die civitas, deren Grundlage Recht und Besitz ist. Morgans Untersuchungen bildeten im weiteren die Basis für Friedrich Engels‘ Abhandlung Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats von 1884 und für Ferdinand Tönnies‘ Konzepte von Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887. Morgan fand das Ideal der societas bei den Irokesen, die er erforschte; Ferdinand Tönnies entwickelte sein Gemeinschaftsideal theoretisch. Gemeinschaft ist für Tönnies „ein positives Verhältnis“, das bestimmt ist durch „ein reales und organisches Leben“. Obwohl die Familie als „Gemeinschaft des Blutes“ und durch ihre „Einheit des Wesens“ den Grundtypus bildet, kann die „Gemeinschaft des Blutes“ durch eine „Gemeinschaft des Ortes“, durch „Zusammenwohnen“ ersetzt werden. Die höchste Form der Gemeinschaft aber ist für Tönnies die „Gemeinschaft des Geistes“. Tönnies‘ Buch ist gleichermaßen revolutionär und konservativ – revolutionär, weil es für die Gemeinschaft in Opposition zur Gesellschaft (zu Hegels Staat) eintrat, konservativ, weil es eine Art Proto-Kommunismus propagiert, der in der Vormoderne verortet wird.
Knapp vierzig Jahre später antwortete Helmuth Plessner auf Tönnies‘ Lob der Gemeinschaft mit einem Text, der dezidiert gegen die Gemeinschaft und damit auch gegen eine intime Nachbarschaft eintrat. Im Kontext der Weimarer Republik mit ihrer „Verhaltenslehre der Kälte“ (Helmut Lethen) plädiert Plessner gegen eine Beziehung der Nähe und fordert 1924 in Die Grenzen der Gemeinschaft eine Gesellschaft, deren Grundlage die Distanz ist. Nicht die Nähe, sondern die Kälte, nicht die Intimität, sondern die Maskerade, nicht die Authentizität, sondern die Verstellung begründet diese Gesellschaft. Für Plessner bedeutet die Gemeinschaft mit ihrem Verlust der Distanz in letzter Konsequenz, dass der Mensch selbst in seinem Dasein gefährdet ist. Plessner schrieb seinen Text im Kontext eines erstarkenden Nationalsozialismus, der in einer „heroischen Gemeinschaftsbejahung“ die „Ausgeschlossenen“ versammelte. Gemeinschaft erscheint ihm damit als Ideologie, die als Folge zunehmender Isolierung und Distanz aufkommt; dagegen setzt er das Individuum in einer distanzierten Gesellschaft. Plessner ist für die Distanz und gegen die Verführung einer wärmenden Gemeinschaft. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, angesichts zunehmender Globalisierung und einer technologischen Revolution, die den „gläsernen Menschen“ hervorbringt, ist die Debatte erneut aufgeflackert: Richard Sennett argumentiert in der Tradition Plessners, wenn er von der „Tyrannei der Intimität“ warnt, von der unsensiblen Wahrnehmung des Menschen für öffentliche Belange, für die res publicae. Der Nachbar erscheint damit als Schreckgespenst, das dem Einzelnen die Möglichkeit nimmt, sich abzugrenzen und öffentliche und private Belange voneinander zu trennen.

Nachbarschaft(en): Karten und Bewegungen

Gemeinschaft und Nachbarschaft sind Konzepte, die häufig synonym gebraucht werden, doch erfordert Nachbarschaft eine bestimmte topographische Ordnung, auf die die Gemeinschaft verzichten kann. Während die Gemeinschaft ein vor allem soziales, oft utopisches oder philosophisches Modell ist, kombiniert das Konzept der Nachbarschaft soziale und räumliche Aspekte; es ist eine „soziale Organisation der Nähe“ (Peter Klös).
Stadtforscher und Stadtplaner reagierten mit ihren Überlegungen zur Nachbarschaft zunächst auf die Moderne mit ihren Folgen der Verstädterung und der Industrialisierung, auf das Wachsen der Städte, die viele Menschen auf wenig Raum unterbringen mussten. Während Schriftsteller die Stadt in ihren Romanen bereits seit dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert beschrieben, haben Soziologen (wie Georg Simmel oder Robert Ezra Park) oder Kulturtheoretiker (wie Walter Benjamin) erst im frühen 20. Jahrhundert begonnen, durch die großen Metropolen (wie London, Berlin oder Chicago) zu spazieren. Etwa zur selben Zeit haben Architekten und Stadtplaner versucht, das Wohnen in den Städten zu modernisieren und, wie die postrevolutionären Architekten in Sowjetrussland oder Bauhaus in Deutschland, Wohnviertel für ein besseres, gesünderes Leben entworfen. Beobachter und Bauleute haben die Städte in kleinere Segmente unterteilt, um mikroskopische Modellwelten der großen Stadt zu sehen, zu beschreiben oder zu bebauen.
Die ersten, die die Stadt und ihre Nachbarschaft(en) beobachteten, waren die Anhänger der Chicago School of Urban Sociology, deren Höhepunkt zwi-schen 1915 und 1932 lag. Der (Stadt-)Ethnologe Rolf Lindner hat sie in seiner höchst interessanten Studie Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung von 2004 ausführlich behandelt: Die Chicago School funktionierte nach dem Prinzip: „Go everywhere, see everything, overhear everyo-ne.“ Für Robert Ezra Park, den Gründungsvater der Chicago School, steht die Stadt beispielhaft für die Gesellschaft als Ganzes; andere richteten ihre Aufmerksamkeit auf kleinere soziale Welten, wie Little Italy oder die Lower North Side in Chicago. Diese neighbourhoods sahen sie gezeichnet durch eine Interaktion zwischen ihrer physischen Struktur und ihrer kulturellen Ordnung. Der Stadtethnologe Ernest W. Burgess zum Beispiel teilte Chicago in fünf unterschiedliche Zonen ein, die er aufgrund von Lage und Berufsfel-dern unterschied: Zone I war der „zentrale Business-District“, Zone II die „Transit-Zone“ mit Nachbarschaften, die sich aus Immigranten und Slums zusammen setzten, Zone III umfasste die neighborhoods der „Emigranten der zweiten Generation“ und „respektabler“ Arbeiter, in Zone IV verortete er die amerikanische Mittelklasse, und Zone V war die Pendlerzone der Vororte oder „suburbia“. Diese Beschreibung von Chicago stellte eine Art „natürlicher“ Verteilung der Arten in Hinsicht auf die Lokalisierung und den sozialen Status dar.
Burgess’ Studie war charakteristisch für einen Typus der urban studies, der feste Einheiten nummerierte und, davon ausgehend, mental maps entwickelte. Neuere urban studies dagegen sehen Städte nicht als Karte, sondern als Prozess an. Aus dieser Perspektive erscheint Nachbarschaft als flexibleres Konzept, das in den Augen einiger Stadtforscher über die räumlich basierte Definition hinaus geht. Bereits 1961 hat Jane Jacobs in ihrer Studie über The Death and Life of Great American Cities die Vorstellung der idealen Nachbarschaft als „ein gemütliches, nach innen gelenktes und selbstgenüg-sames städtisches Dorf“ kritisiert und dagegen die Dynamik und Bewegung gesetzt, die die Menschen miteinander verbindet.
Während die Chicago School Nachbarschaften beobachtete und beschrieb, waren die Architekten und Stadtplaner zeitgleich mit der Frage nach dem neuen Wohnen befasst. Dabei waren architektonische und anthropologische Projekte eng miteinander verknüpft; beispielhaft dafür steht die Sowjetunion: Man musste Wohnraum schaffen für den postrevolutionären neuen Menschen. Um ein Maximum an Raum für eine maximale Anzahl von Arbeitern zu ermöglichen, wurden kommunale Wohnhäuser entworfen, die nicht nur Wohnraum schaffen sollten, sondern auch als ideologische Vervollkommnung eines neuen, kommunistischen Lebens galten.
Die russischen Wohn- und Stadtplaner entwarfen und diskutierten damit neue Formen des (Zusammen-)Lebens und brachten dabei Argumente ein, die sowohl die materiellen Notwendigkeiten als auch die Ideologie berück-sichtigten. Die westlichen Architekten, die das russische Experiment zum Teil fasziniert beobachteten, planten und entwickelten das moderne Leben – 1925 präsentierte Le Corbusier seine unité d’habitation, seine „Wohnmaschine“, die 1947 in Paris gebaut wurde. Diskutiert wurde auch die „Wohnung für das Existenzminimum“, und in Deutschland entwickelten Peter Behrens, Mies van der Rohe, Walter Gropius und andere ein Programm für das „Neue Bauen“ (1925-1930 in Berlin und Frankfurt), das, wie auch in Russland, für Arbeiter gedacht war, die aus den ländlichen Gegenden in die Städte gezogen waren und in menschenunwürdigen Verhältnissen hausten.

Nachbarschaft heute?

Nachbarschaft heute ist, trotz der Entwürfe der Moderne und nicht trotz, sondern wegen der globalen, sowohl realen als auch digitalen Wanderbewegungen schwieriger und zu einer Grundsatzfrage geworden. Es geht um nicht weniger als um den Umgang mit dem Fremden, dem Anderen. Die „schützende soziale Mauer, die den anderen auf geeigneten Abstand gehalten hat“, so Slavoj Žižek, ist gefallen, Kulturen treffen aufeinander und müssen sich zueinander verhalten. Die Toleranz dem Anderen gegenüber und die „obsessive Angst“ vor ihm gehen dabei, so Žižek, Hand in Hand: „Nichts auszusetzen ist am anderen, solange er sich mit seiner Andersheit nicht zu sehr aufdrängt, solange dieser Andere also nicht wirklich der Andere ist …“. Zygmunt Bauman formuliert es ähnlich, wenn er davon spricht, wie schwierig es ist, seinen Nächsten zu lieben: „On the Difficulty of Loving Thy Neighbour“. Nachbarschaft bewegt sich, folgt man den gegenwärtigen Kulturtheoretikern, in einer schwierigen Spannung zwischen Exklusion und Inklusion, die aufklärerische Ideologien wie Toleranz und Gleichberechtigung gleichermaßen fordert wie strapaziert.
Um diese Spannung auszuhalten, braucht es die Bereitschaft und Fähigkeit der Einzelnen, das Zusammenleben mit dem Anderen zu bewältigen, die Ähnlichkeiten mit dem Fremden aufzufinden und die Unterschiede zu akzeptieren. Dass es darüber hinaus auch eine Reihe von Bemühungen gibt, „Gemeinschaft des Ortes“ (Tönnies) aktiv herzustellen und Wohn- und Gemeinschaftsprojekte zu gründen, in denen Alte und Junge, Gesunde und Behinderte, Eingewanderte und Einheimische oder auch Musik-Liebende und Kunst-Produzierende ihre Verschiedenheit als Bereicherung und nicht als Trennendes erleben, zeigt, dass es heute auch einen Bedarf und eine Sehnsucht nach Nachbarschaft gibt. Die kann und sollte durch entsprechende Förderung und Flexibiltät politisch unterstützt und begleitet werden; schlussendlich ist und bleibt Nachbarschaft aber eine Aufgabe, die jeder Einzelne im Alltag meistern muss, egal, ob mit Nachbarn, die einem ähnlich oder aber ganz anders sind.

Autorin: Schamma Schahadat, Professorin für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaften an der Universität Tübingen, arbeitet an einem Projekt über „Intime Texte, intime Räume“ und hat in dem Zusammenhang (gemeinsam mit Sandra Evans) ein Buch zum Thema "Nachbarschaft, Räume, Emotionen. Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform" (transcript 2011) herausgegeben.

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Foto: Daniel Ullrich (CC)

Sozialraumanalyse Emscherregion

Das Zentrum für Interdisziplinäre Regionalforschung an der Ruhr-Universität Bochum (ZEFIR) hat auf Initiative der Emschergenossenschaft die Region nach verschiedenen sozialen Gesichtspunkten untersucht und mit der Sozialraumanalyse Emscherregion (2012) eine räumlich differenzierte Informationsgrundlage zu den zentralen Lebensbedingungen der Bevölkerung in der Emscherregion bereitgestellt. Die Sozialraumanalyse beschäftigt sich mit den Entwicklungsmöglichkeiten der Emscherregion und formuliert Handlungsempfehlungen. Sie basiert auf einem Mehr-Ebenen-Ansatz, in dessen Rahmen die Lebensbedingungen der Bevölkerung sowohl auf der Ebene der Städte als auch auf der der Stadtteile unter die Lupe genommen wurden. Die Analyse befasst sich mit den Dimensionen Demographie, Sozialstruktur, Bildung, Gesundheit und Lebenslage der ausländischen Bevölkerung.

www.zefir.ruhr-uni-bochum.de

Schichten einer Region

Die Buchpublikation "Schichten einer Region – Kartenstücke zur räumlichen Struktur des Ruhrgebiets" ist das Ergebnis einer zweijährigen Forschungsarbeit an der TU Dortmund Fakultät Raumplanung unter Prof. Christa Reicher. Das 250-seitige Werk stellt plastisch die aktuellen Themen des Ruhrgebiets wie Siedlungsstruktur und Landschaft, Verkehr, Wirtschaft und Soziales in sieben
thematischen Kapiteln vor. Aber die Publikation bleibt nicht bei der Analyse stehen, sondern gibt Ausblicke auf "Zukunftswege und Potenziale": "Ruhrbanität" als das gemeinsame Vielfache aus attraktiven Stadtlandschaften, Energieeffizienz und nachhaltiger Mobilität, Wissenslandschaften und urban integrierten Hochschulen, Kreativquartieren und regionalen Denkfabriken in Unternehmen. Die Empfehlungen für eine künftige Politik reichen von der Entwicklung einer regionalen Bau-Identität mit attraktiven öffentlichen Plätzen bis zur Pflege des ethnisch-sozialen Mosaiks und der lokalen Wegenetze.

www.schichten-einer-region.de


Siedlungs-, Industrie- und Freiflächen sind im Emschertal stark miteinander verwoben, wie hier der Blick vom Gasometer Oberhausen zeigt.
Foto: M. Eichental (CC)

Gated Communities

Was Tönnies nicht erfasst hat, sind „Gemeinschaften des Geldes“: jene Nachbarschaften, die sich ihre Exklusivität auf der Grundlage ihrer finanziellen Möglichkeiten erkaufen und sich in Gated Communities von denen, die anders sind, abschotten. Diese in den USA verbreitete Wohnform für die Besserverdienenden und ihres Gleichen haben es auf dem europäischen Markt noch immer schwer. Die ersten Gated Communities in Europa entstanden in Italien und wurden im großen Stil vom damaligen Baulöwen und späteren Ministerpräsidenten Berlusconi errichtet, der darin zu Beginn der 19080er Jahren auch eine Chance sah, seine Angebote privater Fernsehkanäle zu installieren.


Gated Community in der Nähe von Dallas, Texas. Foto: Dean Terry (CC)

Das jährlich stattfindende Alsenstraßenfest in Bochum.
© Petra Kleibaumhüter

Neue Nachbarschaften

Das Leben in engen, urbanen Nachbarschaften kann auch anstrengend sein. Es entstehen aber immer wieder Projekte und Gruppen, die sich für ein gutes und funktionierendes Zusammenleben in Nachbarschaften engagieren und dort Verantwortung übernehmen: Bürgervereine, Stiftungen, Genossenschaften und Unternehmen sowie offene Netzwerke. Sie stiften Kulturprojekte, tragen Bildungsangebote, schaffen Wohnraum, bauen eine unabhängige Energieversorgung auf, kümmern sich um den öffentlichen Raum oder entwickeln ein neues Image für den Stadtteil. Angesichts finanziell und organisatorisch schwächer werdender Kommunen werden solche Initiativen zu einem wichtigen Pfeiler in der städtischen Entwicklung. Mit dem Projekt „Neue Nachbarschaften“ veranstaltete die Montag Stiftung im Herbst 2012 einen Wettbewerb für alle solche Menschen und Initiativen in urbanen Räumen, die sich mit Ideen und Projekten besonders für Nachbarschaft engagieren und versuchen, die Geschicke ihres Viertels selbst in die Hand zu nehmen.

www.neue-nachbarschaft.de

Nachbarschafts-
streitereien

Haustiere von Nachbar A hinterlassen Kot auf dem Gelände von Nachbar B;
 Nachbar D hört zu spät zu laute Musik, und das stört Nachbar F, Nachbar A macht allgemein zu viel Lärm; es steht ein Baum zwischen der Grenze der beiden Gärten von Nachbar C und Nachbar B, wem gehört dieser Baum jetzt, wer kehrt das Laub weg; Nachbar A grillt im Garten, und der Rauch zieht Nachbar B ins Fenster.... 
Eine repräsentative Umfrage der GfK Marktforschung kommt zu dem Ergebnis, dass der häufigste Grund für Nachbarschaftsstreitereien Lärm ist. Bei jedem 7. Krach ist eine laute Stereoanlage oder ein dröhnender Fernseher beteiligt. Auch wegen unerledigter Arbeiten oder dreckiger Handwerker geraten sich Nachbarn in die Haare. Bevor der Anwalt bemüht wird, hilft nicht selten ein klärendes Gespräch.

© Thomas Max Müller / PIXELIO

Wissenswertes


Unité d'habitation, Typ Berlin.
Foto: C. Geek (CC)

Le Corbusier

Le Corbusier wurde 1887 als Charles-Edouard Jeanneret in der Schweiz geboren. Den Namen Le Corbusier nahm der in Paris lebende Architekt 1923 an. Bereits mit 17 Jahren baute er sein erstes Haus – die Villa Fallet in La Chaux-de-Fonds in der Schweiz. 1951 erhielt er von der Regierung von Punjab in Indien den Auftrag, die Regierungsstadt Chandigarh völlig neu zu planen. Die Arbeiten an diesem Großprojekt waren bei seinem Tod im Jahr 1965 noch nicht abgeschlossen. Le Corbusier war Pionier einer völlig neuen Sicht zeitgenössischer, städ-tebaulicher und architektonischer Probleme. Er experimentierte mit neuen Technologien, wie etwa mit der Vorfabrikation vorgefertigter Bauteile, die dann auf der Baustelle nur noch zu-sammengefügt werden müssen.

Unité d'habitation

Le Corbusier entwickelte „Wohnmaschinen“, in denen die Menschen wohnen, parken, einkaufen und integrierte Freizeiteinrichtungen nutzen können – kleine, in sich geschlossene Städte. Im Rahmen der Interbau (Internationale Bauausstellung) entstand die nach Marseille und Nantes dritte „Unité d'habitation, Typ Berlin“ als 17-geschossiges auf Stützen stehendes Hochhaus mit 557 Wohnungen, die über neun mittig angelegte „Straßen“ erschlossen werden. Das Haus ist 141 m lang, 23 m breit und 53 m hoch. Das Gebäude wurde in einer Rekordzeit von 18 Monaten als eigenständige kleine Stadt errichtet. Die Wohnungen boten maximalen Komfort auf minimalem Raum.
Das Gebäude ist ein ambitionierter Versuch, privates und gemeinschaftliches Leben zu vereinbaren. Le Corbusier konzipierte es als „vertikales Dorf“, in dem wie bei einem Ozean-dampfer alle Funktionen auf mehreren Ebenen übereinander angeordnet sind. Es gibt mehrere Stockwerke, auf denen sich Läden und Büros befinden, es gibt auch ein Restaurant und ein Hotel, die beide noch original ausgestattet sind.
Durch Bauvorschriften erzwungene starke bauliche Veränderungen, vor allem hinsichtlich des „Modulor“-Maßsystems (statt der vorgesehenen Raumhöhe von 2,26m entsprechend den Vorschriften des sozialen Wohnungsbaues 2,50m), und Reduzierung der geplanten infrastruktu-rellen Einrichtungen gegenüber dem ursprünglichen Entwurf führten zur Distanzierung des Architekten vom ausgeführten Bau. 1979 wurden die Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt.


Auch eine Form von Gemeinschaft...
Foto: See-Ming-Lee (CC)

Literatur

- Zygmunt Bauman: Gemeinschaften: Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt. Frankfurt am Main 2009


- Axel Haeusler (Hg.): Das war nicht Monaco hier - Blickpunkte städtischer Nachbarschaft. Berlin 2010


- Rolf Lindner: Walks on the Wild Side: Eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt am Main 2004


- Christa Reicher (Hg.), Thorsten Schauz (Hg.): IBA Emscher Park: Die Wohnprojekte 10 Jahre danach. Essen 2010


Die Arbeitersiedlung Schüngelberg in Gelsenkirchen wurde 1989 im Rahmen der IBA denkmalgerecht saniert und später mit einem Neubauprojekt verbunden.
Foto: O. Widderson (CC)