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Revier ohne Zäune

„Freier“ und „öffentlicher“ Raum entlang der Emscher

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Die kulturlandschaftliche Umgestaltung entlang der Emscher und darüber hinaus die der gesamten Agglomeration zwischen Ruhr, Emscher und Lippe haben den Blick auf Freiraum und öffentlichen Raum verändert. Auch deren Gegenteil, der private, nicht für jeden zugängliche Raum ist in diese Veränderung einbezogen. Das bietet Potenzial zur Entdeckung und Entfaltung des industriegeschichtlichen Siedlungserbes entlang der Emscher.

Geschichtlichkeit von Raumverteilungen

Freiraum und öffentlicher Raum sind nicht das Gleiche. Freiraum war und ist im allgemeinen Verständnis wie auch im Verständnis von Raum- und Siedlungsplanern der Raum außerhalb der Städte, landwirtschaftlich oder forstwirtschaftlich gepflegt, zugänglich für die Blicke sich frei bewegender Menschen. In früheren Zeiten konnte er gefährlich sein, wenn Räuber im Wald waren, oder auch gesperrt, wenn der Fürst jagen wollte. Öffentlichen Raum gibt es in den Städten, so auf den Begriff gebracht, wohl seit dem 19. Jahrhundert, gestaltet als Straße oder Platz. Ihm gegenüber befinden sich privat genutzte, meist bebaute Parzellen. Dieser private Raum wirkt vielfältig auf den öffentlichen Raum ein, so ist beispielsweise die Gestaltung von Häuserfassaden oder Vorgärten auch gleichzeitig Gestaltung sie umgebenden Raums.
Dann brach die Welle dampfgestützter Technologien über Europa herein, vor allem über Regionen, wo die Kohle lag. Die Großindustrialisierung seit dem 19. Jahrhundert hat die Dimensionen dieser Raumverteilung verändert. Riesige Areale wurden „entöffentlicht“, dienten der privatwirtschaftlichen Nutzung. In Einzelfällen ist auch hier architektonische Kultur sichtbar, aber es überwog der eingezäunte Bereich – und hinter die Zäune konnte kaum jemand blicken, geschweige denn gelangen. Das war das Resultat städtebaulich ungeplanter Entwicklung, die nur der ökonomischen Rationalität von industriewirtschaftlichen Großunternehmen unterworfen war. Die Wirkungen und Einflüsse, die von diesen Arealen auf den öffentlichen und je nach Entfernung auch auf den freien Raum außerhalb der verdichteten Bebauung ausgingen, waren eher Emissionen, Stäube, Gase, Lärm, verseuchtes Wasser. Der Industriestaub verhangene Himmel vernebelte öffentlichen Raum oder änderte seine Farbe. Die Bilder von Dunstwolken über Häusern und Hochöfen prägen noch immer das Bild industrieller Agglomerationen. Die ökologischen Folgen der Abwässer für Flüsse und Bäche machten es erforderlich, weiteren Raum zu ent-öffentlichen. Die Emscher wurde so ein nicht-öffentlicher Fluss – das Betreten ihrer Ufer oder gar Baden waren bei Lebensgefahr verboten und mussten deshalb durch Zäune verhindert werden. Die Nebenbäche der Emscher wurden verrohrt, die Industrieagglomeration eine Stadtlandschaft ohne Wasserläufe.

Gebiet und Revier?

Immer entdecken Menschen die Möglichkeit von Alternativen, auch zu industriewirtschaftlicher Landschaftsverunstaltung und manchmal lassen sich die Alternativen verwirklichen, wenn fachlicher Verstand und politische Kompetenz zusammenkommen. In der Industrieagglomeration zwischen Ruhr und Emscher waren das schon im 19. Jahrhundert die Parks und Gärten, die in allen Städten der Region entstanden, allerdings eher zum privaten Nutzen der besseren Schichten. Die Ausstellung „Zwischen Kappes und Zypressen. Gartenkunst an Emscher und Ruhr“ in Schloss Oberhausen hat im Frühjahr 2010 auch diese „Grünräume“ eindrucksvoll dokumentiert. Dann kamen die regionalen Grünzüge des genialen Verbandsdirektors des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk Robert Schmidt, als nach dem ersten Weltkrieg Demokratie in Preußen Einzug gehalten hatte.
Aber diese Projekte blieben Inseln in einem Siedlungsgebiet, der dem freien und öffentlichen Raum keine Priorität gab und ihn nur selten in die städtebaulichen Abwägungen einbezog. Das alles prägte die siedlungsräumliche Wirklichkeit und das Bild vom „Ruhrgebiet“. Ruhr „gebiet“ – diese Benamung einer Region ist bis heute gebräuchlich, im Alltag wie in den Medien. Die wenigsten reflektieren die sprachliche Bedeutung dieses Begriffs – nämlich fremdbestimmtes Territorium. Der Bezug zum freien oder öffentlichen Raum, respektive deren Gegenteil, ergibt sich, wenn dieses „Gebiet“ zum „Revier“ wird. Die etymologische Geschichte des Wortes ist verblüffend. Es meinte zunächst das am Ufer befindliche, ebene Land entlang einem Wasserlauf. Diese Bedeutung gelangte aus dem Französischen an den Rhein und drang von da als Revier, das generell eine Gegend bezeichnet, weiter vor, und wurde so zum Jagdgelände – vielfach nicht betretbar für das gemeine Volk – und später dann zum forstlichen Verwaltungsbezirk. Schließlich gelang es auch in die Fachsprache des Bergbaus und wurde zum „Bergbaugebiet“, anfangs das – umzäunte – Grubengelände bezeichnend. In der Militärsprache schließlich bedeutete Revier „Inneres der Kaserne“, die Bedeutung als nichtöffentlicher Raum hatte sich zum Autoritären perfektioniert: Zutritt verboten! In fast ironisch-symbolischer Weise entspricht die Geschichte der Emscher und ihrer Ufer der Geschichte des Wortes Revier.

Die Verwandlung von Räumen in Denkmäler und Parks

Aber der Bedeutungsverlust der montanen Großindustrie seit den 1960er Jahren, verursacht durch eine neue Welle technologischen Fortschritts, der zur Dienstleistungs- und Wissenswirtschaft führte, bot auch die Chance zur Umgestaltung der Siedlungslandschaft in der industriellen Agglomeration. Zechenanlagen, Kokereien und Hochöfen wurden stillgelegt, riesige Areale wurden frei. Industriewirtschaftliche Flächenengpässe lösten sich auf, Brachen wurden zu planerischen Herausforderung der Siedlungsentwicklung. Allerdings dominierte noch lange der wirtschaftsförderliche Glaube, diese Brachen ökonomisch recyceln zu können, neue Industriebetriebe auf ihnen anzusiedeln. Der Glaube widersprach der technologischen Realität. Die neuen Informationstechnologien machten die Miniatisierung wirtschaftlicher Prozesse zum Prinzip, flächenfressende Großanlagen wurden zu funktionslosen Dinosauriern. Die denkmalschützende Musealisierung der monumentalen Industriebauten konnte beginnen – zuerst Zeche Zollern in Dortmund und dann viele weitere, was zu den Industriemuseen in Westfalen und im Rheinland führte. Zollverein in Essen war schließlich in vielfacher Weise ein Maximum – die vielleicht größte Zeche der Welt, rationales Bauen der Moderne nach dem ersten Weltkrieg realisiert, konnte Weltkulturerbe werden. Diese museale Bewahrung funktionslos gewordener Monumentalität aber zog fast im Wortsinn Kreise. Auch die Areale rings um Zollern in Dortmund, Zollverein in Essen, Rheinelbe in Gelsenkirchen, Bochumer Verein konnten nicht wieder industriell genutzt werden, und so entstanden neuartige Parks – der Westpark in Bochum – oder Industrienatur, einen neuen Eindruck von der Kraft vegetativer Natur zeigend. „Industriewald Ruhrgebiet“ ist ein Projekt des Landes Nordrhein-Westfalen, in der Nachfolge der Internationalen Bauausstellung Emscherpark. Auf fast 240 Hektar gehören 17 Teilflächen beiderseits der Emscher dazu. Diese Industriewälder lassen erfahren, dass sich Natur auf brachliegenden Flächen nach kurzer Zeit von selbst entwickelt. Es entstehen neue Lebensräume für Pflanzen und Tiere, aber auch freier Raum für Menschen, die in ehemals für sie „verbotene Stätten“ hineingehen können.

Kultivierungen von Räumen

Allerdings bedarf freigewordener Raum, auch Industriewald, immer auch der Pflege, der Kultivierung. Freiraum hat Bezug zum Menschen, er ist deshalb auch immer Kulturlandschaft. Das galt schon seit Jahrhunderten für agrarische und forstliche Räume, das gilt seit Ende des 20. Jahrhunderts für postindustrielle Areale. Jetzt allerdings kann technologischer Aufwand erforderlich sein, der technikverursachte ökologische Schäden beseitigen muss, die freien Umgang gefährden. Dies wurde zunächst gelernt, als der vom Land Nordrhein-Westfalen 1979 eingerichtete Grundstücksfonds Ruhr versuchte, aufgegebene Industrie-Areale neuen Nutzungen zuzuführen. Dazwischen lagen die ökologischen Altlasten, sie zu beseitigen, erforderte technologisches Wissen und neue Techniken.
Damit kam die Gestaltung der altindustriellen Kulturlandschaft der Emscher näher. Die offene Kloake war fragwürdig geworden, sie passt nicht zu neuen Parks und Industrienatur. Ihre Renaturierung ist geboten, aber das erfordert einen baulichen Aufwand, dessen Dimension den Größenordnungen industrieller Anlagen entspricht – wie auch anders. Die Abwässer gehören geklärt in Kanäle, die, wie in anderen großstädtischen Agglomerationen auch, unter der Erdoberfläche liegen. Danach kann wieder ein Fluss kulturlandschaftlich gestaltet werden, Flussläufe sind selten wirklich „frei“. An der „Alten Emscher“, Resultat vielfältiger industrieinduzierter Umgestaltungen des Emscherverlaufs, im Landschaftspark Duisburg Nord lässt sich schon heute erleben, wie diese naturnahe Emscher aussehen wird. Radikal ist diese Umgestaltung in Dortmund, wo die Emscher wieder einen See, den Phönixsee bilden soll, der Anfang Oktober 2010 geflutet wurde.
Der landschaftlichen Gestaltung der Emscher folgt im Vor- und Nachlauf die Gestaltung ihrer Ufer. Das konkretisiert sich im Emscher-Landschaftspark zwischen Castrop-Rauxel und Duisburg. Die industrieinduzierte Gestaltung der Vergangenheit hat dazu landschaftliche Zufallsergebnisse hinterlassen – vor allem die Emscher-Insel. Parallel zur kloakisierten Emscher wurde für die Binnenschifffahrt der Rhein-Herne-Kanal gebaut, mit der Emscher eine Insel bildend.
In einem komplexen gestalterischen Prozess werden Wasserläufe und ihre Ufer zu neuem öffentlichem wie freiem Raum, einbezogen in einen „Park“, also in Kulturlandschaft, der Name Emscher Landschaftspark soll das ausdrücken.

Freiräume zur flexiblen Gestaltung

Was Menschen im kultivierten Freiraum und damit auch im Emscher Landschaftspark machen, lässt sich allerdings nicht planen. Freiraum macht frei – es entstehen soziale Räume, bestimmt durch auch spontanes Nutzungsverhalten vielfältiger Art – und nicht alles, was andere in Freiräumen machen, muss jedem gefallen.
Dieses Unvorhersehbare sozialräumlicher Entwicklung sollte mit flexibler räumlicher Gestaltung einhergehen. Diese bleibt erforderlich, denn die Nutzung öffentlichen Raumes kann nicht immer frei sein. Im östlichen Bereich der Emscherinsel gibt es beim Ortsteil Pöppinghausen schon ein Naturschutzgebiet, Betreten ist deshalb nur eingeschränkt möglich, ökologische Belange beschränken Freiheit, die willkürlich wird.
Kunst im öffentlichen Raum hingegen steigert die Freiheitsmöglichkeiten des Erlebens. Sie sind mit der Emscher-Kunst des Jahres 2010 entstanden und präsentiert. Kunst im öffentlichen Raum kann – wie Baudenkmäler – Gestaltungsperspektiven verändern und Ecksteine setzen, an die sich die anschließenden Raumnutzungen anpassen sollen. Ein solcher kolossaler Eckstein ist das „Monument for a Forgotten Future“, die Nachbildung einer Felsformation von Olaf Nicolai und Douglas Gordon. Er steht auf der „Wilden Insel“, einer Anhöhe nördlich der Kanalschleuse in Gelsenkirchen. Der Eckstein kann Druck machen für den Abzug von eingezäunten Öltanks von der Insel, wenige Meter von dem Kunstobjekt entfernt. Öltanks und Zaun unterbrechen den öffentlichen Raum und hindern den freien Durchgang.

Die Spezifik nachindustrieller Agglomerationen

Freiraum wurde als Öffentlicher Raum zur raumgestalterischen Perspektive verdichteter, also städtischer Siedlungsentwicklung. Aber weder das idealisierte Bild der Europäischen Stadt des späten Mittelalters, z.B. Rothenburg ob der Tauber, noch die schon durch industrielle Entwicklungen geprägte Europäische Großstadt des 19. Jahrhunderte wie sie in Paris, Berlin oder Barcelona zu erleben ist, bestimmen allein diese Perspektive. Auch nicht nur der fachintellektuelle oder tatsächliche Widerstand gegen die Suburbanisierung, das unkontrollierbare Flächenwachstum der Städte in ihr Umland, ist für sie Herausforderung. Nachindustrielle Agglomerationen lassen sich nicht aus dem Verhältnis von planvoll gestaltetem Zentrum und sich Planung widersetzender Zersiedelung verstehen. Sie bieten ganz andere Perspektiven des Zwischeneinanders von vielfältiger privater Nutzung und ebenso vielfältiger öffentlicher Nutzung von Raum, die nach kulturlandschaftlicher Gestaltung rufen. Der stinkende Fluss mit Zaun neben mannshohen Rohren, Eisenbahnschienen, die verbaut werden sollen, zwischen der Insel, ihren Menschen, der Kunst und den Alltagserfordernissen sind das Potenzial des störenden Zwischeneinanders. Das ungeplante Nebeneinander und die planlose Vielfältigkeit fordern zur öffentlichen Inbesitznahme auf. An der Emscher mit ihrem industriegeschichtlichen Siedlungserbe haben die Perspektiven des Zwischeneinanders begonnen.

Autor: Dr. Christoph Zöpel war Minister für Stadtentwicklung des Landes Nordrhein-Westfalen von 1980 bis 1990 und ist heute Honorarprofessor der Fakultät für Raumplanung der TU Dortmund

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Foto: Alte Emscher bei Duisburg,
© Emschergenossenschaft

Zwischennutzung

Im Berliner Stadtteil Hellersdorf belebten 2002 Künstler leerstehende Plattenbauten und ersannen Visionen zwischen Abriss und Popkultur. Es war der „Freiraum“, der von Planern und Investoren unbehelligte Raum, der zur Zwischennutzung aufforderte und Lebensformen, Nachbarschaftlichkeit, künstlerische Gestaltungsoptionen und neue Mischungsverhältnisse von Raum- und Gebäudenutzung hervorbrachte. Das „Dazwischen“ bietet offensichtlich Möglichkeiten für die Entfaltung von Produktivität und Kreativität. Die Befreiung von der Ausrichtung auf ein Ziel, eine Funktion oder einen Mehrwert macht etwas möglich, von dem man vorher noch nicht wusste, dass es das geben könnte. Mehr zum Thema: www.urbancatalyst.net

Informelle Stadtgestaltung

will Situationen, Räume, Areale und Gebiete des baulichen und strukturellen Kontextes Stadt auf andere Art sehen und daraus produktive Schlüsse ziehen. Peripherien und "Unort"-Zonen werden ästhetisch umgedeutet, z.B. als während der Architekturwoche plan03 in Köln die oberste Ebene eines Innenstadt-Parkhauses zum Restaurant umfunktioniert und bei sommerlichem Wetter gegrillter Fisch und Weißwein angeboten wurde. Oder als in Magdeburg 2005 eine temporäre Stadtteilbibliothek initiiert wurde: Auf einem Brachgelände, wo früher tatsächlich ein Bibliotheksgebäude stand, errichteten Aktivisten eine Konstruktion aus gestapelten Getränkekästen, die die Anwohner mit Buchspenden zu einer informellen Bibliothek ausgebaut haben. Vgl: "Der öffentliche Raum als Labor"

Innovative Konzepte

Neben den bekannteren Beispielen für die Umnutzung alter Industriestätten, wie z. B. auf Zeche Zollverein, entstehen immer wieder innovative Konzepte, um ungenutzten Räumen neues Leben zu verleihen. In Bottrop etwa eröffnete 2010 der BernePark, den Landschaftskünstler unter Berücksichtigung der ehemaligen Funktion als Kläranlage zu einem öffentlichen Park umgestalteten. So erschufen sie z. B. aus einem der Klärbecken einen versunkenen Garten und verwandelten das begehbare Becken mittels 21.000 Stauden und Gräsern in ein grünes Amphitheater. Im Park warten zu Hotelzimmern umfunktionierte Kanalrohre auf Übernachtungsgäste und das frühere Maschinenhaus dient heute als Restaurant.


Restaurant im Maschinenhaus im Bottroper BernePark, Foto: © Klaus Tenhofen

Sperrräume

Im Zuge der Emscher-Renaturierung erhält ein Umwelt-Skandal aus den 1980er Jahren neue Aktualität: Im Grenzgebiet von Herten, Herne und Gelsenkirchen hatte Anfang der 80er die Bergbau AG Lippe 32 000 Kubikmeter Material abgekippt. Bei dem vermeintlich harmlosen Abfall handelte es sich jedoch um giftigen Gichtgasschlamm. Nach Bekanntwerden der Affäre deckte man die toxischen Abfälle einfach mit Mutterboden ab. Doch jetzt steht eben dieses verseuchte Areal auf der Agenda für die Emscher-Renaturierung. Eine Entsorgung und Säuberung der Gichtgaskippe ist spätestens jetzt, wenn die Emscher zu einem sauberen Fluss und das gesamte Gebiet wieder zum öffentlichen Raum wird, dringend angebracht. Ob der Verursacher jedoch für die Kosten aufkommt, ist mehr als fraglich.


Foto: Erich Ferdinand (flickr.com)

Alte Industriehalden stehen der Bevölkerung heute als Aussichtsplattformen zur Verfügung, Foto: Halde Hoheward in Herten,
© Meike Emmerich

Industriebrachen

Für die einen sind sie ein Tribut an die Industrievergangenheit des Reviers, für die anderen bizarre Stahlkolosse, die die Landschaft verunstalten: Industriedenkmäler wie alte Zechen oder Fabrikhallen sorgen nicht bei allen Teilen der Bevölkerung für Begeisterung.
Fakt ist aber, dass die Überreste der Industrie für einzigartige Kulissen sorgen, die identitätsstiftend wirken können. Umso besser, wenn man die Einzigartigkeit der alten Industriebauwerke als Vorteil erkennt und durch innovative Nutzungspläne den Menschen zurückgibt. An einzelnen Orten können neue Attraktionen oder Ausflugsziele geschaffen werden (Beispiel "Werksschwimmbad" auf dem Zeche-Zollverein-Gelände in Essen) die überhaupt erst dazu ermutigen, die nun freien Räume zu erkennen und wieder in Besitz zu nehmen.

Freiraum
Rhein-Herne-Kanal

Offiziell ist das Schwimmen im Kanal untersagt, tatsächlich aber verwandelt sich der Rhein-Herne-Kanal Jahr für Jahr im Sommer zur „Ersatzküste“ für alle, die nicht in den Urlaub fahren können oder wollen. Die Ufer des Kanals sind dann dicht bevölkert, und auch mit dem Schwimmverbot nehmen es die meisten nicht so genau. Diesen Raum haben sich die Menschen im Emschertal bereits erobert, das Schwimmen wird mittlerweile geduldet. Und die Beliebtheit des Areals wird noch steigen, wenn nur einen Steinwurf entfernt nicht mehr die Emscher als Abwasserkanal, sondern als sauberer Fluss zur Naherholung einlädt.

Rhein-Herne-Kanal bei Gelsenkirchen, Foto: Michael Eichental (flickr.com)

Wissenswertes


Freiräume füllen: Der PHOENIX See in Dortmund vor der Flutung,
Foto: © Klaus Baumers

Freiraum

Freiraum hat etwas mit Freiheit zu tun. In der Landschaftsplanung ist der Begriff anders definiert als in der Sozialphilosophie oder in der Grafik. Grundsätzlich stellt die Freiheit eine Lücke dar, die gefüllt werden kann und somit eine Aufforderung zur Entwicklung und Kreativität darstellt. Gleichermaßen haben Freiräume aber auch Grenzen und Bedingungen und stehen in Bezug zu Notwendigkeiten, Zwängen und anderen Anforderungen.

Öffentlichkeit

Unterschieden vom privaten und persönlichen Raum bezeichnet Öffentlichkeit die gesellschaftliche Sphäre, die für die Allgemeinheit offen und zugänglich ist. Ihr kommt eine wichtige Funktion bei der Herstellung von Transparenz in öffentlichen und politischen Angelegenheiten zu. Allerdings gibt es nicht nur eine einzige Öffentlichkeit. Moderne Gesellschaften erzeugen eine Vielzahl von Teil-Öffentlichkeiten, z.B. parlamentarische Öffentlichkeiten oder auch Verbandsöffentlichkeiten.

Agglomeration

Im Gegensatz zur relativ freien Nutzung des Begriffs in Deutschland ist „Agglomeration“ in der Schweiz exakt vom Bundesamt für Statistik definiert: Zum einen muss es sich um zusammenhängende Gebiete mehrerer Gemeinden mit insgesamt 200.000 Einwohnern handeln, zum anderen besitzt jede Agglomeration eine Kernzone (Kernstadt mit > 10.000 Einwohnern), die min. 2000 Arbeitsplätze insgesamt und min. 85 Arbeitsplätze pro 100 wohnhafte Erwerbstätige aufweist.
Eine Gemeinde wird einer Agglomeration zugeteilt, wenn mindestens ein Sechstel der Erwerbstätigen in der Kernzone arbeitet und weitere Bedingungen erfüllt werden, die sich an wirtschaftlichen Vorgaben (Arbeitsplatzdichte), dem Bevölkerungswachstum (10% über dem schweizerischen Mittel über ein Jahrzehnt hinweg) und der geographischen Lage (baulicher Zusammenhang mit der Kernstadt, keine Baulücken über 200 m) richten.

Vorteil einer polyzentralen Metropole

Im Gegensatz zu klassischen Metropolregionen, die sich um eine einzelne Großstadt bilden, verfügt das Ruhrgebiet über mehrere Zentren. Durch diese räumliche Verteilung ergeben sich ganz von allein Freiräume zwischen den öffentlichen Zonen. Dieses Nebeneinander von Stadt und Grün, von Geschäftigkeit und Ruhe schätzen nicht nur Einheimische, gerade Fremde zeigen sich immer wieder überrascht von der Vereinbarkeit von Metropole und Landschaft.


Einer der ältesten kommunalen Landschaftsgärten im Ruhrgebiet: der Stadtpark Bochum, Foto: © Meike Emmerich

Ausstellungen zum Thema

2010 widmete die Ludwig Galerie Schloss Oberhausen der Gartenkunst zwischen Emscher und Ruhr eine Ausstellung, die die Entstehung und Entwicklung von Grünanlagen im Emschertal vom Rokoko bis in die Gegenwart porträtierte. Gärten bildeten schon immer Schnittstellen zwischen öffentlichem und privatem Raum. Markierten sie zunächst Leerstellen in der Industrielandschaft des Ruhrgebiets, kommt ihnen heute im Zuge der Deindustrialisierung eine identifikationsstiftende Funktion zu.

Ebenfalls in der Ausstellungsreihe „Mapping the Region“ der RuhrKunstMuseen zeigte Andreas Siegmann in „Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ eine Zeichenserie, in der er sich mit der Ökonomisierung und Privatisierung des öffentlichen Stadtraumes auseinandersetzte.

Vom 17. April 2011 - 3. Juli 2011 präsentiert Joachim Schumacher mit „Emscher Revier. Industrielandschaft im Prozess“ im LWL Industriemuseum Zeche Zollern (DO) ein fotografisches Porträt des Emschertals. In seinen über 40 Jahren gesammelten Fotografien kontrastiert er anheimelnde Nischen in Schrebergärten und Hinterhöfen mit heruntergekommenen Plätzen und Straßenzügen und stillen Schönheiten der Industrienatur im Emschertal.

Emscher-Expeditionen

Auch 2011 werden überall im Ruhrgebiet wieder „Emscher-Expeditionen“ angeboten. In geführten Touren kann man per Fahrrad, Packesel oder Kanu Ausflüge unternehmen und die Zwischenräume im Emschertal abseits der Straßen und aus neuen Perspektiven erkunden. Mehr Informationen über das von der Emschergenossenschaft initiierte Projekt unter www.emscher-expedition.eu

Industrienatur

Dem einzigartigen Neben- und Miteinander von Industrie und Natur hat die "Route Industriekultur" eine eigene Themenstrecke gewidmet, die "Route Industrienatur". Sie umfasst 17 Ziele, die Naturerlebnisse der besonderen Art versprechen, und diejenigen, die Industrie und Natur für unvereinbar halten, eines Besseren belehren.


Das Gelände der Zeche Zollverein ist eines der "Industrienatur"-Ziele, Foto: © Meike Emmerich