a b c d e f g h

EMSCHERplayer // // // Rückkehr der Natur

Rückkehr der Natur

Die Neuerfindung von Natur und Landschaft in der Emscherzone

00

„Die Natur“ ist längst nicht mehr das, was sie mal war. Das kann man beileibe nicht nur, aber besonders eindrücklich auch am und im Ruhrgebiet beobachten. Vor allem die Emscherzone ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie „urbane Natur“ im postindustriellen Zeitalter technisch und symbolisch neu definiert, produziert und inszeniert wird.

Das Andere der Stadt

Lange Zeit haben Stadt- und Regionalforschung der Spezifik und den Wandlungen des Verhältnisses von Natur und Gesellschaft in urbanen Agglomerationen wenig Beachtung geschenkt. Natur galt immer als das ganz Andere der Stadt. Urbanisierung und Industrialisierung gingen einher mit fortschreitender wissenschaftlich-technisch-administrativer Beherrschung und Kontrolle ökologischer Prozesse. Im 20. Jahrhundert wurden moderne Städte deshalb entweder als Monumente der Emanzipation der Menschen von den unbarmherzigen Zwängen der Natur gefeiert oder als Zeugnisse der Entfremdung von den wohltuenden Kräften der Natur verteufelt. Beide Positionen nahmen Städte als tendenziell „naturfreie“ Räume wahr: Begegnungen mit der Natur waren nur außerhalb der großen Städte zu haben.
Im Ruhrgebiet war die rücksichtslose Indienstnahme und Nutzbarmachung der Naturressourcen in besonderer Weise zu beobachten. Letztere wurden den Anforderungen und Bedürfnissen der Montanindustrie restlos unterworfen – mit gravierenden und unumkehrbaren Folgen für die Gewässer, Böden, Flora und Fauna, Topografie und Ästhetik der Region. Lange Zeit galt gerade die Emscherzone mit ihren vergifteten, stinkenden, betonierten Wasserläufen, mit den sterbenden Wäldern, mit der verpesteten, krank machenden Luft und den nachhaltig belasteten Böden als Inbegriff von Naturzerstörung.

Neue Perspektiven

Diese Sichtweise hat sich in den letzten Jahren radikal gewandelt. „Natur“ ist – in einem veränderten Verständnis – auf vielfältige und sehr widersprüchliche Weise zurück: im urbanen Bewusstsein, in der Stadt- und Regionalplanung, in der interdisziplinären Metropolenforschung und nicht zuletzt auch in der wissenschaftlichen Theoriediskussion. Hierfür seien einige Beispiele genannt:
Erstens wurde das Vertrauen in die vollständige wissenschaftlich-technische Kontrolle der Natur durch die gerade in den letzten Jahren sich häufenden Überschwemmungen, Dürren, Stürme, Feuersbrünste etc. fundamental erschüttert. Vor allem im Zusammenhang mit dem anthropogen verursachten Klimawandel ist häufig von einer Rückkehr der „wilden Natur“ die Rede: Natur wird wieder als eigensinnige, unberechenbare Kraft erlebt, die sich allen Beherrschungsversuchen widersetzt. Im Ruhrgebiet haben insbesondere Orkane wie Kyrill (2007) und Xynthia (2010) oder die großen Überschwemmungen in Dortmund (2008) und Essen (2009) materiell wie mental tiefe Spuren hinterlassen.
Zweitens entwickelte sich im ausgehenden 20. Jahrhundert ein neues Verständnis von „Stadtnatur“. Viele wilde und gefährdete Tier- und Pflanzenarten wandern in bebaute oder aufgegebene urbane Räume ein. Dort finden sie attraktivere und weniger bedrohte Lebensräume als im monotonen, durch die moderne Hochleistungslandwirtschaft geprägten Umland. Inzwischen werden Städte sogar als neue „Inseln der Artenvielfalt“ gefeiert.
Im Ruhrgebiet hat die „spontane Natur“ vor allem die alten, sich selbst überlassenen Industrieareale zurückerobert. Gerade auf den Brachen mit ihren vollständig veränderten und belasteten Böden hat sich eine reiche Vielzahl seltener und extrem anpassungsfähiger einheimischer und exotischer Pflanzen und Tiere angesiedelt, die in dieser Form und Verbindung nirgendwo anders anzutreffen ist. Die weitgehend „wild“ und „selbstbestimmt“ sich entwickelnde „Industrienatur“ ist ein herausragendes Merkmal des Ruhrgebiets. Ihre besondere Eigenart und Schönheit zieht längst nicht mehr nur Biologen in ihren Bann.

Entfaltung und Pflege der „Industrienatur“

Drittens werden Städte und Regionen heute generell nicht mehr gegen die, sondern mit der „Natur“ entwickelt. Innerstädtische Grünräume und attraktive Landschaften sind in der lokalen und regionalen Entwicklungspolitik ein bedeutender Standortfaktor. Zunehmend werden „Natur“ und „Landschaft“ als integrale Bestandteile metropolitaner Regionen sowie als zentrale Identitäts- und Identifikationsträger begriffen und planvoll gestaltet.
Gerade hinsichtlich dieses Trends sind das Ruhrgebiet und namentlich die Emscherzone national und international beachtete Vorreiter. Die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park hat den Anstoß zu der bis heute verfolgten Strategie gegeben, „Natur“ und Landschaft ins Zentrum der Regionalentwicklung zu stellen – und damit ausgerechnet jene Elemente, die am stärksten den industriellen Vernutzungen unterworfen waren. Die industrielle Prägung wird hier gerade nicht geleugnet, sondern sogar hervorgehoben und solchermaßen zum Ausgangs- bzw. Anknüpfungspunkt einer postindustriellen Neuerfindung von Natur und Landschaft.
In diesem Sinne wurden und werden regionale Grünzüge ausgebaut und zu einem Landschaftspark neuen Typs verbunden. Prägnante industrielle Strukturen wie Zechenanlagen, Gasometer, Halden und Gleise werden erhalten und durch Umnutzung mit neuen Bedeutungen aufgeladen („Industriekultur“). Siedlungsbestand wird saniert, möglichst qualitätvoller Neubau realisiert. Nicht zuletzt wird die Entfaltung der „Industrie-Natur“ unterstützt. Bergsenkungsseen, entstanden durch den Einsturz ausgeräumter Kohleflöze, entwickeln sich für viele Tier- und Pflanzenarten zu „Biotopen aus zweiter Hand“ und werden unter Naturschutz gestellt (wie z.B. die Hallerey in Dortmund). Natürliche Sukzession auf Brachen hat eine neue Art Waldgebiet hervorgebracht: Industriewald. Die inzwischen der Landesforstverwaltung unterstellten Industriewälder dürfen sich teils wild entfalten, teils wird ihre Entwicklung (möglichst behutsam) gelenkt. Für StadtbewohnerInnen entstehen neue Frei- und Aneignungsräume in unmittelbarer Nähe. Zu diesen zählen auch die Parkanlagen neuen Typs, die an stillgelegten Industriestätten angelegt wurden (z.B. Landschaftspark Duisburg Nord, Gleispark Frintrop). Die besondere Faszination geht hier von der Gleichzeitigkeit von Verfall, verkörpert durch die Relikte der Industriearchitektur, und augenscheinlich unbändiger Naturkraft aus. An vielen dieser neuen „Naturorte“ setzen Fachleute der Eigendynamik frei ablaufender Naturprozesse allerdings auch schon wieder Grenzen: Um die Industrienatur in ihrer momentanen Vielseitigkeit längerfristig zu erhalten, sind pflegerische Eingriffe erforderlich.

Technisch konstruierte Naturräume

Wie ich meine, erhält die materielle und symbolische Neudefinition von Natur und Landschaft in der Emscherzone ihren exemplarischen Charakter aber erst durch den gezielten Einsatz von Technik und Kunst. In Kombination mit architektonischen und städtebaulichen Maßnahmen bilden sie die Grundlage der angestrebten Formung eines prägnanten Natur- und Landschaftsbildes, das die Wahrnehmung der Region grundlegend verändern soll.
Diese spezifische Herangehensweise lässt sich am gemeinhin als „Jahrhundertprojekt“ titulierten ökologischen Umbau des Emschersystems von der „Revier-Kloake“ zu einer „stadtnahen Auenlandschaft“ besonders gut aufzeigen. Was gerne als „Renaturierung“ vermarktet wird, hat mit den natürlichen Strukturen der ursprünglichen Flusslandschaft rein gar nichts zu tun. Die durch den Bergbau entstandenen Veränderungen der Topografie und des Gewässersystems sind unumkehrbar. Grundlegende Voraussetzung dafür, dass die Emscher oberirdisch als intaktes, natürliches Fließgewässer erscheinen kann, ist ein mit enormem Aufwand entstehender unterirdischer Kanal, der die Abwässer der Emscher künftig transportieren wird. Entsprechend wird jeder der Zuflüsse unter der Erde verdoppelt. Durch Bergsenkungen sind große Teile des Reviers zu Poldergebieten geworden; sie müssen dauerhaft durch Pumpwerke entwässert und durch Deiche geschützt werden. Auch Großkläranlagen, Hochwasserrückhaltebecken u.a.m. gehören zu den ingenieurstechnischen Grundlagen der Umgestaltung des Emschersystems, ohne die das Emschergebiet heute schlicht nicht mehr bewohnbar wäre. So liegen etwa Teile von Dortmund bis zu 14 Meter unter dem Niveau der alten Entwässerungslinien. Dies sind nur einige Anhaltspunkte dafür, in welchem Maße das Neue Emschertal (wie die meisten Bergbaufolgelandschaften) als ein wissenschaftlich-technisch konstruierter und regulierter „Naturraum“ entsteht: Technik ist unabdingbare Voraussetzung der „Rückkehr der Natur“.

Künstlerische Inszenierung und Reflexion

Dass die technologischen Grundlagen nicht verschwiegen und versteckt, sondern offensiv ästhetisiert und reflektiert werden, gehört zu den Schule machenden Kennzeichen der Neuerfindung von Natur und Landschaft in der Emscherregion. So ist auch die Emscher-Genossenschaft bestrebt, die „Poesie der Technik“, die von der hohen Kunst der Ingenieure beim Emscherumbau ausgeht, künstlerisch zu unterstreichen. Im EMSCHERplayer findet man hierfür eine Vielzahl von Beispielen.
Um ein aktuelles herauszugreifen: Im Kulturhauptstadtjahr RUHR.2010 wird der vom Lippeverband vorgenommene Umbau der Seseke und ihrer Zuflüsse von zwölf Künstlern kommentiert, die temporäre wie auch dauerhaft verbleibende Kunstwerke für zwölf spezifische Orte entwickelt haben. Dieses Projekt wird neben den Anrainerstädten auch vom Lippeverband getragen. Dabei wird etwa in einem Fall eine „Landschaft im Fluss“ inszeniert: Auf eine künstlich hervorgebrachte Insel in der Seseke werden Sumpfzypressen und Schachtelhalme gesetzt. Die Sumpfzypresse hat es dort in früheren Zeiten einmal gegeben, gegenwärtig aber nicht mehr – deshalb erscheint sie uns heute als fremder Baum. Mit dieser „Skulptur im ehemaligen Abwasserkanal“ verweist der Künstler Thomas Stricker auf das Gemachtsein der neuen Flusslandschaft hin und zeigt, dass die Grenzen zwischen Künstlichem und Natürlichem „fließend“ sind.
Schon die IBA hat die Rolle und Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für die Herausbildung eines Identität stiftenden wie repräsentierenden Landschaftsbildes erkannt und eng mit bildenden Künstlern zusammengearbeitet. Die Landmarken der Halden sind ein herausragendes Beispiel dafür, wie Kunst Zeichen setzen und einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, dass die neuen „Naturräume“ als integrale Bestandteile einer Landschaft im Werden wahrgenommen werden – dass also ein wiedererkennbares, affektiv-emotional besetztes Bild dieser Landschaft überhaupt erst entstehen kann.

Nachindustrielles Naturverständnis und gesellschaftliche Dominanzverhältnisse

Die neue Aufmerksamkeit für „Natur“ in der Metropolenforschung und -planung koinzidiert mit einem verstärkten Interesse für „Natur“ in der allgemeinen soziologischen Theoriediskussion. Auch hier wird seit einigen Jahren nach einem Naturverständnis jenseits von naturalistischen und soziozentrischen Zugängen gesucht, das starre Entgegensetzungen wie z.B. Natur und Kultur oder Natur und Gesellschaft überwindet.
Die oben skizzierten Prozesse und Projekte machen deutlich, dass und warum der Abschied vom Denken in althergebrachten Kategorien erforderlich ist. Vor unseren Augen und vor unseren Haustüren entwickelt sich ein spezifisch nachindustrielles Naturverständnis, welches Stadt und Natur, Technik und Kunst, Industrie und Landschaft nicht mehr als fundamentale Gegensätze sieht, sondern auf vielfältige Weise amalgamiert. Ruhrgebiet und Emscherzone sind Paradebeispiele dafür, wie bei der Redefinition urbaner Naturen und postindustrieller Stadtlandschaften materielle und symbolische, technische und künstlerische Strategien auf das Engste ineinander greifen.
Insgesamt schmückt sich das Ruhrgebiet heute mit dem Titel, grünster aller altindustriell geprägten Ballungsräume Europas zu sein. Diese Geschichte der Neuerfindung von Natur und Landschaft auf den Grundlagen der industriellen Naturzerstörung ist ein wirklich bedeutender Strang innerhalb der großen Erzählung von der Neuerfindung des Ruhrgebiets, dessen narrative Kraft insbesondere das eitle Gerede von der „Metropole Ruhr“ weit überstrahlen könnte.
Dabei war und ist keine der angeführten Entwicklungen unumstritten. Gerade das Vordringen von „wilder Natur“ in die Stadt wird von vielen Anwohnern als Ausbreitung von „Unkraut“ und deshalb als Anzeichen von Verwahrlosung und Verfall interpretiert. Eine Studie von Gisela Prey und Orhan Güleş hat ergeben, dass die häufig am Rande von Industriebrachen wohnende türkische Ruhrgebietsbevölkerung die „neue Stadtnatur“ nur zu geringen Teilen positiv bewertet. Auch Naturschützer diskutieren heftig, ob der neue, wertschätzende Blick auf die Spontanvegetation an extremen Standorten einer Verharmlosung, Verdrängung oder gar Verklärung der Umweltzerstörungen der Vergangenheit Vorschub leistet und inwiefern hier überhaupt zu kultivierende und zu schützende Natur entsteht.
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass das neue Naturverständnis vielfach mit bestehenden Auffassungen und Bewertungen von Natur in Konflikt geraten kann. Wenn es sich dennoch allmählich durchzusetzen scheint, dann deutet das darauf hin, dass es von einflussreichen gesellschaftlichen Trägergruppen mit großer Diskurs- und Deutungsmacht forciert wird. Das Leuchtturmprojekt Emscher-Umbau wäre diesbezüglich für eine eingehendere Analyse besonders geeignet. Die alte, schnurgerade in ihrem Betonbett dahinfließende Emscher war ein eindeutiges und starkes Symbol der politischen und gestalterischen Macht des montanindustriellen Komplexes und seines rein instrumentellen Naturbezugs. Ausgehend vom hier vorgestellten neuen Naturverständnis, wie es den Umbau der Emscher kennzeichnet, wäre nun zu fragen, von welchen gesellschaftlichen Dominanzverhältnissen die neue Emscher kündet.

Autorin: Dr. Susanne Frank, Professorin an der TU Dortmund, Fakultät Raumplanung, Stadt- und Regionalsoziologie.

PDF anzeigen

Industrie und Natur: Jahrhunderthalle Bochum, Fotos: © Meike Emmerich

Industriewälder

Das im Rahmen der Internationalen Bauausstellung „Emscher-Park“ initiierte „Restflächenprojekt“ wurde nach sechsjähriger Testphase Anfang 2002 unter dem Titel „Industriewald Ruhrgebiet“ als dauerhaftes Projekt auf die Landesforstverwaltung Nordrhein-Westfalen übertragen. Dies ermöglicht völlig neue Betätigungsfelder; beispielsweise kann man im landeseigenen Wald in Nordrhein-Westfalen oder auch im vom Regionalforstamt betreuten Privat- oder Kommunalwald Brennholz schlagen oder aufarbeiten. Dazu muss allerdings die Teilnahme an einer Motorsägenschulung nachgewiesen werden. Das zuständige Regionalforstamt bietet in diesem Zusammenhang Motorsägenkurse an: www.wald-und-holz.nrw.de

IBA Emscher Park

Das Konzept, die bestehenden Grünflächen im Ruhrgebiet zu einem dezentralen Erholungsgebiet zu verknüpfen, wurde bei der Internationalen Bauausstellung Emscher Park im Jahr 1989 vorgestellt. Bestandteile dieses neuen Regionalparks sollten nicht nur Grünflächen, sondern auch industrielle Kulturlandschaften sein. Heute gibt ein multimediales Informationszentrum im Oberhausener Haus Ripshorst Aufschluss über die Standorte des „Revierparks“. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Emscher Landschaftsparks präsentiert das Haus Ripshorst seit März 2010 eine Ausstellung, die unter den Aspekten "Gestern, heute und morgen" die Entwicklung des Parks aufzeigt.

Route Industrienatur

Die Route Industriekultur hat der Industrienatur eine eigene Themenroute gewidmet. Auf der Strecke können sich Besucher an ausgewählten Standorten (z.B. Kokerei Hansa Dortmund, Welterbe Zollverein, Halde Rheinelbe und Skulpturenwald) von der einzigartigen Symbiose alter Industrieanlagen mit der Natur überzeugen. Alle Ziele der Route Industrienatur auf www.metropoleruhr.de


Ein Ziel der Route Industrienatur: Welterbe Zollverein, © Meike Emmerich

Große Erzählungen

Der französische Philosoph Jean-François Lyotard veröffentliche 1982 das Buch La condition postmoderne (Das postmoderne Wissen), in dem er das Wissen von hochentwickelten Gesellschaften untersuchte. Sein Fazit: Früher wurde wissenschaftliches und philosophisches Wissen stets im Rahmen von großen Erzählungen vorgetragen, wie die des Fortschritts, der Emanzipation des Menschen, des Buchs der Natur oder der Einheit eines weltumspannenden Sinns. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts haben alle diese großen Erzählungen an Boden verloren. Heute triumphiere der Dissens über den Konsens, und das habe den Vorteil, dass der Einzelne nicht mehr vom Allgemeinen terrorisiert würde. Erst mit dem „Ende der großen Erzählungen“ werde Pluralität verwirklicht.

Poesie der Technik

Vielerorts gehen Technik und Kunst im Ruhrgebiet eine Symbiose ein. So auch im Dortmunder Pumpwerk Evinger Bach, wo Filmvorführungen und Lesungen veranstaltet werden, Ausstellungen und eine Klangkunstinstallation beheimatet sind und regelmäßige Führungen durch die Dauerausstellung „Kunst trifft Technik, Technik trifft Kunst“ stattfinden. Hier wird ein kulturelles Programm geboten, gleichzeitig aber auch die besondere Bedeutung der Pumpwerke erläutert, ohne die ein Leben in der Region längst nicht mehr möglich wäre.


Plakat am Pumpwerk Evinger Bach,
© Bastian Götz

Bausstelle Phoenix See,
© Karl-Heinz Blomann

Ausbau von Grünzügen

Im Rahmen des Emscher-Umbaus entstehen zahlreiche neue Grünflächen in Stadtnähe. Eines der Leuchtturmprojekte ist der Phoenix See: Nur 4 Kilometer von der Dortmunder Innenstadt entfernt ist ein ein 24 Hektar großer Flachwassersee entstanden. 2005 begann der Umbau des Geländes eines ehemaligen Stahlwerks in Dortmund-Hörde, der 1.10.2010 war der Stichtag für die Flutung des Areals. Das Projekt gilt als eines der größten städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen Europas, berücksichtigt dabei aber nicht nur die Interessen der menschlichen Bewohner: Neben zahlreichen Freizeitmöglichkeiten sollen See und Umgebung auch großflächige Lebensräume für Tiere und Pflanzen bieten. www.phoenixdortmund.de

Flusslauf statt Verkehrsstau

Im Jahr 2007 hat sich der Madrider Bürgermeister Alberto Ruiz-Gallardón für die Schaffung öffentlicher Naturräume in der Stadt stark gemacht. Das renommierte Rotterdamer Architekturbüro West 8, spezialisiert auf urbanes Design, wurde beauftragt, der Stadt ein neues Gesicht zu verleihen. Zugunsten einer neuen Uferpromenade entlang des Flusses Manzanares wurde die dort verlaufende Autobahn unter die Erde verlegt und verschwand aus dem Stadtbild.
Ähnliche Maßnahmen zur Schaffung einer urbanen Flusslandschaft wurden auch in der 10-Millionen-Metropole Seoul ergriffen, wo eine Schnellstraße dem Fluss Cheonggyecheon weichen musste.

„Über Wasser gehen”

Nach zwei Jahrzehnten wurde das Großprojekt Seseke-Umbau beendet, und zum Abschluss fand das Kulturprojekt an der Seseke und ihren Zuflüssen vom 13. Juni bis 26. September 2010 statt. Dazu wurden Künstler aus NRW, ganz Deutschland, den Niederlanden, Polen, Schweiz und Slowenien an die Sesekegewässer eingeladen. Sie haben zwölf Kunststandorte gestaltet. Entlang des Flusses finden sich Landschaftskunst, interaktive Projekte mit den Menschen vor Ort, begehbare und „schaukel“bare Skulpturen ebenso wie diverse Inszenierungen. Viele Kunstwerke verbleiben dauerhaft vor Ort und werden vom Lippeverband unterhalten. Vgl. www.ueberwassergehen.de

Seseke, © Billie Erlenkamp

Wissenswertes


Industrie und Natur: Nordsternpark Gelsenkirchen, © Meike Emmerich

Natur-Begriffe

Natur und Gesellschaft müssen in ein neues Verhältnis gesetzt werden, weil das gängige sozial und kulturell geprägte Bild von Natur nicht mehr passt. Natur heute ist nicht mehr die, die dem Menschen schwere Arbeit abfordert. Vielmehr dominiert das Bild einer freundlichen Ergänzung des zivilisierten Alltags um neue Erfahrungen und Erlebnisse. Diese Verschiebung der gesellschaftlichen Wahrnehmung kann man symptomatisch an folgendem Phänomen verdeutlichen: Natur ist zwar ein Stichwort im Reader „Großstadt, soziologische Stichworte“ von Häusermann et al. (2000), nicht jedoch im „Handwörterbuch zur ländlichen Gesellschaft in Deutschland“ von Beetz et. al.(2005).

Stadtraum = Lebensraum

Immer mehr Tiere, die menschliche Siedlungen einst mieden, erobern sich die (Vor-) Städte als Revier. So hat sich beispielsweise im Zeitraum von 10 Jahren der Bestand an Rotfüchsen in Bochum fast verdoppelt. Lag die Zahl der 1991 erfassten Tiere noch bei 129 so waren es 2001 bereits 260. Auch Hasen und Reiher gehören mittlerweile zum Stadtbild im Ruhrgebiet. Nicht nur das reichhaltige Nahrungsangebot lockt sie aus den Wäldern in die Städte, sondern auch die Störung in ihren natürlichen Lebensräumen: Während der Mensch zur Erholung in die Natur flüchtet, weichen die Tiere in die Städte aus.

Seltene Arten auf der Autobahn

Während andere feierten, machten sie sich an die Arbeit: Ein Team Bochumer Botaniker nutzte die Vollsperrung der Autobahn für das Kulturvolksfest „Still-Leben A40“, um Pflanzen auf der Mittelspur zu kartieren. Mehr als 400 Arten wurden erfasst, darunter auch seltene und gefährdete Pflanzen, die sich der täglichen Luftverschmutzung zum Trotz einen festen Platz auf der Autobahn erobert haben.

urban gardening

In mehreren großen Städten der Welt wie New York City, Toronto oder Buenos Aires entwickelten sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts Gemeinschafts- und Nachbarschaftsgärten. Heute leben mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land. Für viele verarmte Städter ist diese neue Form urbaner Subsistenzwirtschaft eine Notwendigkeit, um in der Großstadt überleben zu können und häufig werden hier öffentliche Brachflächen genutzt.
Aber wie reagiert die Stadtplanung auf diese Entwicklung? Sollten ungenutzte Industriebrachen oder Bauerwartungsland für solche Zwecke zur Verfügung gestellt werden? Welche Konflikte entstehen aus den unterschiedlichen Nutzungsansprüchen und welche positiven Effekte der Integration und Völkerverständigung lassen sich erzielen? Welche visuelle Präsenz haben diese privaten Umnutzungen im städtischen Raum? Dazu fand Ende September im Rahmen der Reihe Perspektivenwechsel 2010 die Veranstaltung „Interkulturelle Gärten – geplant, gewollt, geduldet?“ statt, bei der Gäste aus Planung und Fotografie die mit dieser Entwicklung einhergehenden Fragestellungen und Herausforderungen diskutierten.

urban studies

Rasanter Bevölkerungswachstum, zunehmende Globalisierung und wirtschaftliche Polarisation führen überall auf der Welt zu einer wachsenden Verstädterung. Die konventionelle Stadtplanung stößt schnell an ihre Grenzen, es gilt, ganz neue Aufgaben und Herausforderungen zu bewältigen. Die Universität Darmstadt bietet seit 2007 verschiedene Studienmöglichkeiten zum Thema „urban studies“ an, in denen innovative und zukunftsfähige Ansätze für die Stadtplanung im Vordergrund stehen: www.urban-studies.de


Unwetter über dem Ruhrgebiet,
© Meike Emmerich

Klimakulturen

Die Klimaerwärmung konfrontiert Menschen, Kulturen und Gesellschaften mit neuen Herausforderungen. Aufgrund der Dringlichkeit der Aufgaben verfolgt das Kulturwissenschaftliche Institut Essen das Anliegen, die Klimaforschung nicht nur den Naturwissenschaften zu überlassen. Die Kulturwissenschaften, so wird im Rahmen diverser Veranstaltungen verdeutlicht, haben die wichtige Funktion, die Befunde der Klimaforschung in ihrer sozialen Dimension einschätzbar zu machen. Es geht um Generationengerechtigkeit, Verantwortung, Wege aus der Leitkultur der Verschwendung, eben: um die Bedingungen künftigen Überlebens. Vgl. www.kwi-nrw.de

Klima-Expo im Ruhrgebiet

Das Ruhrgebiet wird eine Dekade nach dem Kulturhauptstadtjahr eine Weltausstellung zum Thema Klimaschutz ausrichten, eine „Klima-Expo“. 2020 ist ein bedeutendes Jahr für das Revier: der Emscher-Umbau wird vollendet, das Projekt InnovationCity Ruhr ebenfalls. Das Ruhrgebiet hat also einiges zu bieten in den Bereichen Stadtplanung und Ökologie und könnte als Vorbild für andere Ballungszentren dienen. Um Energiewende, Klimaschutz und die notwendige Anpassung an die Folgen des Klimawandels als Schubkräfte einer nachhaltigen Entwicklung für Wirtschaft und Gesellschaft nutzbar zu machen, hat die Landesregierung die KlimaExpo.NRW ins Leben gerufen.
www.klimaexpo-nrw.de

Klimaunterricht an Schulen

Die Emschergenossenschaft hat im Schuljahr 2010/2011 erstmals Lernmaterialien zum Thema Klimawandel herausgegeben. Neben globalen Themen spielen auch lokale Inhalte eine Rolle. Auf diese Weise sollen Schüler einerseits mehr Bewusstsein für das Thema Klimaschutz entwickeln, andererseits soll die Identifikation mit dem Emschertal unterstützt werden. Mehr zum Lernmaterial "Klimawandel – global und lokal" unter http://www.eglv.de/wasserportal


Lernmaterial "Klimawandel – global und lokal", © Emschergenossenschaft