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Partizipative Stadtteilarbeit

Fragmentarische Anmerkungen zu einer Daueraufgabe

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Es geht um einen ernsthaften Beteiligungsprozess mit einer lebensweltlich wahrnehmbaren Bearbeitungstiefe, der mit Einbeziehung der Bewohner in die Entwicklung ihres Stadtteils mehr meint als die formell geforderte möglichst reibungslose Akklamation a priori getroffener Verwaltungsentscheidungen. Partizipation muss offen bleiben für den Eigensinn quer zu den jeweiligen stadtteilprogrammatischen Leitbildern liegenden Themen des lokalen Alltagslebens.

Die Zumutungen der Bürgerbeteiligung

Bürgerbeteiligung setzt vorrangig an bei der Organisation von Alltagsinteressen, die konkrete Konflikte und Probleme in Angriff nimmt und dabei die Grenze vom Klagen zum Handeln überschreitet. Sie entwickelt sich entlang von Gefühlen wie Unzufriedenheit, Angst, Ohnmacht und Wut, aber auch Begeisterung, Spaß am gemeinsamen Handeln und Selbstvertrauen. Sie bedeutet einen Prozess von facing reality, bei dem Erfahrungen gemacht werden wie: Wer macht mit? Wer hilft uns? Was bewirkt das? Wer ist gegen uns? Wodurch sind wir erfolgreich? Woran scheitern wir? Gesellschaftsanalyse konkret also. Bürgerbeteiligung ist gleichzeitig ein sozialisierendes Medikament gegen Borniertheiten und zielgruppenspezifischen Autismus, weil sie mit der Erkenntnis konfrontiert: Es gibt auch noch Andere, die ganz anderer Ansicht sind. Wir brauchen Koalitionen, wenn wir nicht isoliert werden wollen. Es gibt Dinge, die sind komplizierter, als wir uns das beim dritten Bier vorgestellt haben, und leider liegt das Problem nicht immer nur darin, dass unsere Politiker blöd oder korrupt sind.
Für Politik und Verwaltung impliziert Bürgerbeteiligung die Zumutung, das institutionell geregelte Biotop des eigenen Büros zu verlassen und sich den manchmal heftigen, oft chaotischen und je nach Gefechtslage auch mal am Rande einer Saalschlacht entlangbalancierenden Diskussionsformen vor Ort zu stellen. Die face-to-face-Veranstaltungen mit den Bewohnern und Bewohnerinnen im Wohnquartier sind dabei immer wieder auch wertvolle Bildungsveranstaltungen, die damit konfrontieren, dass die von Politik und Verwaltung mit Engagement und Kompetenz formulierten Präferenzen mit den Orientierungen und formulierten Interessen und Bedürfnissen im Quartier manchmal nur mäßig übereinstimmen.
Mithin: Das Aktivwerden von Bürgern entlang von ihnen für relevant gehaltenen Themen eröffnet eine im staatsbürgerlichen Unterricht nur schwer erreichbare Qualität von learning by doing und ein Erfahrungsfeld des außerschulischen Lernens für echte Menschen mit echten Konflikten. Es ist die Probe aufs Exempel, ob die da oben wirklich machen können, was sie wollen. Ob ärgerliche oder ungerechte Verhältnisse nicht zu ändern sind, weil der Wohnungseigentümer, die Stadtverwaltung oder die Ratspolitiker sich über politisch-basisdemokratische Interventionen einfach hinwegsetzen können.

Entlang der A 42

In vielen Stadtteilen der Emscher-Region leben mit überproportionaler Häufigkeit die einschlägigen Gruppen aus den inzwischen immerhin Standard gewordenen kommunalen Sozialberichterstattungen. Es sind die fünf A des sozialpolitischen Grauens und der Schrecken aller Wirtschaftsförderer: Arbeitslose, Alleinerziehende, Arme, Ausländer und Alte. Bei Licht besehen sind nicht alle dieser Rubriken aussagekräftig. Ausländer differenzieren sich nach Herkunft, Aufenthaltsstatus, Ausbildung, religiöser und ethnischer Zugehörigkeit, Einkommen und weiteren Faktoren und sind als homogene Gruppe eine Wahnvorstellung. Und auch bei den Alten gibt es die Bandbreite von Grundsicherung bis Seniorenresidenz . Es geht um Schichtzugehörigkeit, Armut und soziale Ungleichheit. Wenn in den Zechensiedlungen und Hochhausvierteln vorwiegend ägyptische Zahnärzte, afghanische Rechtsanwälte und türkische Innenarchitekten wohnten, wäre die Lage entspannter. Die verbreitete Kulturalisierung des Problems ist deswegen im Kern irreführend.
Die Gretchenfrage partizipativer Stadtteilarbeit heißt: Beteiligung für wen? Sie stellt sich in der Emscher-Region, im Tal der üblichen Verdächtigen, verschärft, wird aber in der Regel unscharf beantwortet. Wer hat die Definitionsmacht, um in diesem Stadtteil zu sagen: Das ist ein Problem? Wessen formuliertes oder gefühltes Entwicklungsleitbild gibt die Linie vor? Wer soll sich hier an wen anpassen? Sind die zahlreichen türkischen Läden das Problem? Die Jugendlichen auf dem Marktplatz? Das innovationsresistente Milieu in den Seniorenklubs und den lokalen Parteiorganisationen? Der hohe Prozentsatz an öffentlich gefördertem Wohnungsbau? Oder die Leute, die darin wohnen? Sind es die Ureinwohner, die von den alten Zeiten träumen und davon, dass sie eines Morgens die Augen aufmachen und es ist wieder 1964 und die Türken sind weg? Oder sind es die Bezieher von Transfereinkommen und das ganze multikulturelle Tohuwabohu, das dazu führt, dass die Besserverdienenden ihre Kinder in den Grundschulen außerhalb des Quartiers anmelden, falls sie bis dahin nicht ohnehin umgezogen sind?
Soll Entwicklung also stattfinden für die Menschen, die jetzt hier wohnen? Oder für die, die man in Zukunft gerne hier hätte? Letzteres würde den geisterhaften Charakter mancher Versammlungen zur Bürgerbeteiligung erklären. Wer erst in Zukunft kommt, ist in der Regel jetzt nicht da.

Nie war sie so wertvoll wie heute

Seit den 1970er Jahren gehörte Partizipation zur rhetorischen Grundausstattung jeder planerischen Sonntagsrede. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte kam es dann zu einer bemerkenswerten Bedeutungssteigerung von partizipationsorientierten Strategien im politischen und administrativen System. Hintergrund dafür war nicht ein sprunghaftes Anwachsen emanzipatorischer Bewegungen, sondern ein Governance-Diskurs über effektives und effizientes Regieren, der im wesentlichen auf zwei Aspekten beruhte: Zum einen auf dem Rückgang politischer Handlungsspielräume als Kollateralschaden der Globalisierung, zum zweiten auf der gestiegenen Komplexität gesellschaftlicher Problemlagen mit der bekannten Schreckenslitanei Struktur - und Wertewandel, Migration, Schrumpfung und Spaltung der Städte, demographischer Wandel usw.
Im Rahmen dieser stärker auf Beteiligung setzenden Strategie wurden, u. a. angeführt von NRW und seinem damaligen Landesprogramm „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“, spätestens dann mit dem Bundesprogramm „Soziale Stadt“, Begriffe wie „Einbeziehung der Akteure vor Ort“ und „Entwicklung endogener Potenziale“ zumindest programmatisch, aber zunehmend auch operativ als handlungsleitende Zumutung formuliert.
Heute wundern sich die Propheten des freien Marktes, die versprochen hatten, dass der Markt es schon richten werde, darüber, was der Markt so anrichtet. Wenn die Auswirkungen der aktuellen Krise in den Stadtteilen ankommen, könnte es sein, dass eine beteiligungskompetente Stadtteilarbeit, die vor Ort partizipative Strukturen, Routinen und Foren der Quartieröffentlichkeit aufbaut, dringender benötigt wird denn je. Wenn nicht schon begonnen, wäre es klug, jetzt damit anzufangen. Dabei müssen Mitwirkungsbereitschaft, Interessen und Potentiale diese Gruppen selbstredend mit allem Respekt und großer Sorgfalt für einen integrierten Entwicklungsprozess des Quartiers aufgegriffen und genutzt werden. Aufgabe der Stadtteilarbeiter ist es dabei, in einer Art antizyklischer Korrekturbewegung die Schieflagen in der lokalen Öffentlichkeit halbwegs im Lot zu halten und mit lebensweltlich angemessenen Zugangsformen die Menschen da abzuholen, wo sie stehen, sitzen, liegen oder noch Schlimmeres tun. Das ist zwar konzeptionell seit längerer Zeit ein alter Hut, im wirklichen Leben aber weiterhin eher die Ausnahme. Kein Mensch hat gesagt, dass das einfach ist.

Autor: Michael Preis, Stadtteil-Sozialarbeiter in Essen-Katernberg bis 12/2008

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"Welten am Fluss" im Dannekamp, Herne-Wanne (06.07.2008)
© Eckart Waage

Partizipations-Bremse

Im Ruhrgebiet gab es den Zwang, sich organisiert und gemeinsam gegen die Zumutungen des Montankapitals zu wehren. Dies hat eine das individuelle Handeln nicht eben begünstigende Zentralität und Homogenität hervorgebracht.


Jenseits der Gremien

In vielen Armutsstadtteilen sind unter Gesichtspunkten des Demokratieerhalts ergänzende vorparlamentarisch-partizipative Formen der politischen Willensbildung dringend geboten, wenn Politik sich aus diesen Stadtteilen nicht völlig verabschieden will.

Wissenswertes


Zwei Prinzipien

1. Stadtteilbewohner haben eine eigene problemdefinierende Kompetenz.
2. Partizipative Stadtteilarbeit braucht zur Entwicklung und Verstetigung eines alltagsorientierten beteiligungsfreundlichen Milieus dauerhafte infrastrukturelle Voraussetzungen.

Essen, Katernberg - Statistische Daten


Durchschnittliche Haushaltsgrößen:
1 Person 43.75%
2 Personen 30.56%
3 Personen 11.87%
4 Personen 13.82%
Vergleichswerte Essen gesamt (Durchschnittliche Haushaltsgröße: 1.87)
1 Person 45.11%
2 Personen 32.95%
3 Personen 11.49%
4 Personen 10.45%
Kennzahlen im Überblick:
Fläche: 4.72 km2
Bevölkerungsanzahl: 23.684 Einwohner
Bevölkerung weiblich: 51.22%
Bevölkerung männlich: 48.78%
Bevölkerungsdichte: 5017.00/km2
Altersgruppe 0-14: 17.47%
Altersgruppe 15-24: 12.79%
Altersgruppe 25-39: 19.35%
Altersgruppe 40-64: 31.94%
Altersgruppe ab 65: 18.44%
Vergleichswerte Essen gesamt (Altersdurchschnitt: 43.56)
13.05%
10.76%
19.66%
34.70%
21.83%
Gegenüberstellung
Ausländische Bevölkerung:
Katernberg 19.49 %
Essen 11.84 %
Eigentümerquote in Prozent:
Katernberg 26.85 %
Essen 21.51 %
Mieterquote in Prozent:
Katernberg 73.15 %
Essen 78.49 %
Arbeitslosenquote:
Katernberg 15.38 %
Essen: 13.22 %
Bildungsindex:
Katernberg 104.43
Essen 110.99
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