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Fotografie als zeitgemäßes Medium?

Abbild, Reproduktionen und zerstreute Aufmerksamkeit

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Das Ansinnen, den sich über Jahrzehnte erstreckenden Umbau des Emschertals fotografisch fest zu halten, ist anachronistisch. Denn die Anforderungen des modernen Lebens bedürfen einer zerstreuten Wahrnehmung. Fehlende Planungssicherheit wird durch ständige Wachheit und den festen Glauben an eine uneingeschränkte Reversibilität einmal getroffener Entscheidungen ersetzt. Wem es gelingt, selbst Aufmerksamkeit zu erregen, ohne dass die eigene Aufmerksamkeit gefesselt wird, hat entscheidende Vorteile.

Paradoxien auf mehreren Ebenen

Wandel durch Bilder fest zu halten, ist in mehrerer Hinsicht ein paradoxes Anliegen:

1. Da die sich vollziehenden wie auch die geplanten Veränderungen an verschiedenen Orten unterschiedliche Wirkungen zeigen, sind Bilder lediglich situative und momentane Ab-bildungen. Obwohl Bilder doch als Beleg für die reale Existenz eines Ereignisses gelten, zeigt auch eine Reihe von Bildern niemals das Ganze.

2. Bilder werden im Zeitalter digitaler Kommunikation als „Inhalt“ technologisch produziert. Sie bilden, so lautet eine medienwissenschaftliche Grundüberzeugung, nicht ab, sondern stellen her. Weil die Wahrnehmung von Bildern zumeist alltäglich und selbstverständlich erfolgt, kann sie ihre Wirksamkeit als Produzent von Wirklichkeit beiläufig und unreflektiert entfalten. Bilder, ob in Zeitungen und Zeitschriften, auf Plakatwänden, Internetseiten oder im Fernsehen, repräsentieren nicht die „reale“ Welt, sie bringen diese erst hervor: Der Glaube an die Authentizität des Bildes als Ab-Bildung des Realen erzeugt die „Illusio“ der Welt als objektivierter Wirklichkeit.

3. Mit der Transformation der Repräsentationsfunktion des Bildes zu seiner performativen Funktion ist die Produktion von Bildern zu einer Kampfzone geworden. Häufigkeit der medialen Präsenz, die „richtige“ Positionierung innerhalb der Medienlandschaft sowie der zeitlich gut abgestimmte Mix der Präsenzen als die eigentliche Kunst des medialen Spiels sind die Kriterien für das Erlangen der ach so umkämpften Aufmerksamkeit der Zuschauenden. In Zeiten des pictoral turns gibt es Bilder in Hülle und Fülle, die darauf warten, gesehen, zur Kenntnis genommen und betrachtet zu werden.

4. Die Herstellung von Wirklichkeit durch Bilder ist dadurch bedingt, dass Bilder vom Betrachter in einen je subjektiven Kontext gestellt und von ihm oder ihr quasi vervollständigt werden. Das Abgebildete ist deshalb nicht alleiniger Konstituent des Bildes. Bild und Betrachter bringen gemeinsam das Abgebildete hervor.

5. Die von Bild und Betrachter gemeinsam vollbrachte Herstellung bildlicher Wirklichkeit ist zunehmend zufällig, nicht-intentional und selten reflektiert. Da der Raum und die Möglichkeiten für eine fokussierende, kontemplative Aufmerksamkeit des Betrachters in der modernen Gegenwartsgesellschaft selten geworden ist, bringt die Rezeption von Bildern nicht selten eine Wirklichkeit hervor, die das Bekannte favorisiert. Aura ist selten.

Autorin: Prof. Dr. Katharina Liebsch ist Professorin für Soziologie an der Goethe Universität Frankfurt.

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Emscherweg / Foto: Jochen Durchleuchter © Emschergenossenschaft

Aktuelle Fotos

An der Fachhochschule Dortmund gehen Studierende in einem Seminar am Beispiel des Emscherumbaus verschiedenen Aspekten des Strukturwandels im Ruhrgebiet nach:
www.fh-dortmund.de

Fotoprojekt Emscher Zukunft

Bridges - Fotoprojekt Emscher Zukunft ist ein groß angelegtes Dokumentationsprojekt, in dem über Jahre fotokünstlerische Auseinandersetzungen mit dem Umbau des Emschertals prämiert werden:
www.bridges-projects.com

Ausstellung floating colours

Die Sammlung des Fotoprojekts Emscher Zukunft 2008
29. Juni - 17. August
LWL-Industriemuseum, Zeche Zollern, Grubenweg 5, 44388 Dortmund
Di bis So 10 bis 18 Uhr
Mit der Ausstellung floating colours zeigt die Emschergenossenschaft die Arbeiten, die 2007 in die Sammlung des Fotoprojekts Emscher Zukunft aufgenommen wurden. Die Ausstellung vermittelt die Vielfalt, die das Emschertal in kultureller, sozialer, ökologischer und örtlich-landschaftlicher Hinsicht birgt. floating colours steht damit auch für die Farbigkeit an Themen, mit denen das Generationenprojekt Emscher-Umbau der Region ein neues Gesicht gibt.

Wissenswertes

Aura

Lateinisch für Lufthauch, poetisch für Seele, Beseeltheit. Walter Benjamin übernahm den Begriff in seinem Essay über die Reproduktion von Kunstwerken, um die Einmaligkeit eines Kunstwerks in genau dem Moment zu bestimmen, in dem es erlebt wird.
Zerstreute Aufmerksamkeit:
Auf den Straßen der Städte dominieren Wahrnehmungsformen, die darauf zielen, die Reizflut zu bewältigen. Das Bild des „Passanten“ und das Bild des „Flaneurs“ illustrieren zwei Typen von Wahrnehmung. Der Passant hat seinen Blick auf eine unbestimmte Ferne eingestellt. So sieht er über alles hinweg, was Aufmerksamkeit erregen könnte. Der Flaneur hingegen lässt seinen Blick schweifen bis in seinem Blickfeld ein Reiz auftaucht, der seine Neugierde für eine gewisse Zeit weckt und hält. Das Oszillieren zwischen zerstreutem und fokussiertem Wahrnehmen folgt unterschiedlichen Prinzipien, die der Sozialpsychologe David Riesman mit dem Bild der „Kreiselkompass“ und dem des „Radarschirms“ gefasst hat. Der eine verfolgt gradlinig ein Ziel, das er fest im Auge behält, der andere manövriert sich durch auftauchende Hindernisse hindurch und wechselt immer wieder den Kurs. Der eine verfolgt Prinzipien, der andere nutzt Gelegenheiten.
Die Maxime der Gegenwart aber lautet, keine Festlegung zu treffen, die einen daran hindert, neue Gelegenheiten zu ergreifen. Da Traditionen, Maßstäbe und Notwendigkeiten in verschiedenen Lebensbereichen jeweils andere sind, ist eine Aufmerksamkeit von Vorteil, die es ermöglicht, abzugleichen und sein Leben als eine Abfolge von eher kurzfristigen Projekten zu organisieren. Dazu gehört maßgeblich eine aggressive Konkurrenz um Aufmerksamkeit, die in diesem Prozess zu einem knappen Gut wird.