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Kultur und Armut

Die „kreative Klasse“ als Gespenst

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Ein neues Entwicklungsparadigma geht um in Europa. Alle untergegangenen Zentren der alten Industrie von Nord bis Süd richten ihre Hoffnung für die vom Takt der Maschinen verlassenen Städte und Stadtteile auf einen neuen Impulsgeber, der wieder Leben in die Quartiere bringen soll: Die Kultur- und Kreativwirtschaft. Diese Hoffnung kann international auf eine Reihe erfolgreicher Beispiele verweisen. Aber kann dies in der synchronisierten Standortkonkurrenz der Kommunen ein Modell für alle sein?

Welche Kultur? Und: für wen?

Im Ruhrgebiet und in der Emscher-Zone ist hier u.a. die Frage, wie Kulturwirtschaft, die von der spezifischen Aura vernutzter, brachliegender, überflüssig gewordener und deswegen möglichkeitsoffener Räume als Katalysator für ihre Entwicklung magisch angezogen wird, reagiert mit dem sozialen Kosmos, den sie vorfindet. Die coole location, die die Künstler fasziniert, hat einen Nebenaspekt, der bedacht sein will: Sie ist bewohnt. Zumindest hat sie Nachbarn. Es macht nachdenklich, wenn man sieht, mit welcher Euphorie Menschen, die die Klassengesellschaft für eine Erfindung von Karl May halten, von der Kreativen Klasse und ihrer postmateriellen Wirkmächtigkeit reden. Was bedeutet das für die Klasse der ästhetischen Legasthenie und des Unterschichtenfernsehens? Welche Rolle bleibt ihr bei dieser erstaunlichen Transformation des Reviers? Dabei sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass die im Ruhrgebiet im Allgemeinen und in der Emscher-Zone im Besonderen in Gang gebrachten, im weitesten Sinne kreativwirtschaftlichen Projekte, Betriebsgründungen, Landmarken, Festivals, Designparks, Denkmäler und industriekulturellen Institutionen und Events eine intelligente ,begeisternde durchaus – um im Jargon der Programmlyrik zu bleiben – als zukunftsfähige und nachhaltige Strategie zur Nutzung der ja nicht gerade zahlreichen Entwicklungsmöglichkeiten angesehen werden können, die der Region am Ende der Montanzeit blieben. Bei shopping-malls ist der Sättigungsgrad im Revier inzwischen erreicht, Die tumbe Vermehrung von Gewerbegebieten, Autobahnanschlüssen und Waschstraßen war in keiner Hinsicht eine Alternative zur kulturell aufregenden Herausstellung der regionalen Einzigartigkeit mit ihrer Mobilisierungsfähigkeit für die kostbare Ressource externer Aufmerksamkeit. Man muss wohl auch nicht eine ästhetisch-soziale Verhübschung des Ruhrgebiets befürchten, die aus dem Revier ein qualitativ gehobenes Freilichtmuseum mit lebenden Menschen macht, wenn diese Strategie erfolgreich ist. Auch die Umwandlung ehemals privater und gesperrter Firmengelände in öffentliche Güter mit Volksparkcharakter ist eine landschaftliche Gebrauchswertanreicherung, die zunehmend genutzt wird.

Parallelgesellschaften

Das Problem ist ein anderes. Es besteht darin, dass mit dem Entwicklungsparadigma Kreativwirtschaft Hoffnungen und Versprechen verbunden werden, die nicht einzuhalten sind. Wenn die Frage darin besteht, wie im Ruhrgebiet ein Strukturwandel organisiert werden kann, der für alle Fraktionen der Bevölkerung eine neue Zukunft eröffnet, dann ist Kreativwirtschaft keine Antwort, allenfalls eine unzureichende. In einer gespaltenen Gesellschaft kann sie mehr auch nicht sein. Kulturwirtschaft taugt nicht als Ausfallbürge für die sozialpolitische Ignoranz staatlicher Instanzen beim Thema Soziale Ungleichheit. Die Leuchtturmprojekte des Emschertals, die Entwicklung neuer Netzstrukturen für die Jungen Kreativen und die hochkulturellen first-class-events in den montanindustriellen Kulissen finden in der Welt der Gestaltungspessimisten mit raren Ausnahmen nicht statt. Wenn man unbedingt Parallelgesellschaften sucht: Hier hat man sie. Kulturhauptstadt 2010 – auch wenn sie mit einigen massenwirksamen Spektakeln inszeniert wird - und Agenda 2010 sind getrennte Galaxien mit verschiedenen Bewohnern. Die Pioniere einer kreativwirtschaftlichen Neuerfindung des Reviers, denen jeder Erfolg zu wünschen ist, haben mit ihrer kulturellen hard- und software als Standortfaktor für die Region hohe Bedeutung. Aber ihre soziale Innovationstiefe ist beklagenswert begrenzt. Mit der Erwartung, als beiläufigen Nebeneffekt neue Optionen für die alten und neuen Unterschichten zu entwickeln, sind sie völlig überfordert. Weder die Love-Parade noch das neue Folkwang-Museum werden für die abgehängte und zurückgelassene Fraktion der Jugendlichen in den marginalisierten Vororten eine Perspektive anbieten. Auch wenn es Beispiele wie die Kooperation des Essener Grillotheathers mit Katernberger Jugendlichen und dem daraus entwickelten Stück „Homestories“ gibt, die man – wie auch das Projekt der städtischen- Philharmonie mit der Herbarth-Schule und einige weitere – nicht hoch genug loben kann. Aber ihr Kontrast zur alltäglichen Normalität ist dramatisch und macht das haarsträubende Ausmaß an Potenzial, Energie, Leistungsfähigkeit und Kreativität augenfällig, das die Gesellschaft in ihren aussortierten Milieus verrotten lässt. Ansätze wie das Muse-Programm, das kulturelle Projekte in die Schulen trägt, sind deswegen richtige Schritte, aber der Hintergrund der Bühne heißt Spaltung der Gesellschaft.

Blühende Landschaften

Wir sollten deswegen mit unseren lokalen und regionalen Zukunftsversprechen bei der absehbaren Wahrheit bleiben. Blühende Landschaften wird es für die Einen geben. Für die Anderen wird die Erfahrung vorherrschen, dass die Party ohne sie stattfindet. Ein schlichteres Ziel wäre
a) eine zivilgesellschaftliche Stabilisierung der Situation in den Stadtteilen. Unter aktiver Einbeziehung der lokalen Fraktionen der Armutsbevölkerung sollte an der kommunikativen und organisatorischen Verbesserung der Konfliktfähigkeit der Quartiere nach innen und außen gearbeitet werden.
b) Als Daueraufgabe damit verknüpft ist eine kooperativ-konflikthaft verbesserte Anpassung des zuständigen institutionellen Gesamtgefüges an die realen Anforderungen der Menschen vor Ort. Dies stellte ein lebensweltlich gegründetes Korrektiv der stupiden Dominanz der Haushaltssicherungskonzepte in den öffentlichen Institutionen dar.
Das wäre zwar nur muddling through in der Klassengesellschaft, aber nach Lage der Dinge kein schlechtes Zwischenergebnis. Sozusagen das Einfache, das schwer, aber jetzt zu machen ist.

Autor: Michael Preis, Stadtteil-Sozialarbeiter in Essen-Katernberg bis 12/2008.

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Zeche Zollern, Dortmund
© Montage: Bastian Götz

Das Beispiel Frankreich

Der Leiter des Essener Büros für Stadtentwicklung, Klaus Wermker, zitiert gelegentlich das Zitat eines Jugendlichen aus den französischen Banlieues: „Das einzige, was uns mit dieser Gesellschaft verbindet, ist Sport und Musik“.

Kreative Jobs

Milliardenbeträge werden schon jetzt jährlich im Bereich der Kreativwirtschaft umgesetzt. Zahlen belegen: Allein in Aachen hat die Kulturwirtschaft 2005 4,3% der lokalen Umsätze erwirtschaftet, in Berlin waren es schon 2002 sogar 11%, die auf das Konto der kreativen Unternehmungen gingen. Ähnlich Beobachtungen machen Experten auch in den Nachbarländern; so staunte man 2005 in Zürich, dass dort neben fast 50000 Beschäftigten im Bankensektor bereits 40000 Menschen in der Kreativwirtschaft tätig waren .
Kreative arbeiten offenbar still und unbemerkt, ihr Output manifestiert sich nicht in überall sichtbaren Monumenten oder Massenprodukten. Es ist zwar kein schleichender, aber doch ein unbemerkter Prozess der da im Schatten der ehemals dominierenden Industrie vorangetrieben wird.
Mit der Diskussion um die sogenannte „kreative Klasse“ fällt seit einiger Zeit Licht auf diesen längst nicht mehr so schmalen Seitenweg.
Und nicht nur die überfällige Selbstfindung eines Wirtschaftszweigs durch öffentliche Anerkennung deutet auf den Wandel hin. Initiativen und Veranstaltungen beschreiben die Tätigkeit zum Gelderwerb in neuer Form, „9to5“ oder das „Leben jenseits der Festanstellung“ werden diskutiert und zu neuen Formaten in einer sich verändernden Arbeitswelt.
Die Unabhängigkeit von industrieüblichen Werkshallen und immobiler Produktionsmaschinerie lässt eine bislang nicht gekannte Mobilität der Arbeit sowohl örtlich als auch zeitlich zu. Die Arbeitsaufgabe wird zum Auftrag, die Produktionsmittel liegen als Laptop oder Mobilfunkgerät in der Hand des Leistungserbringers und die Stechuhr langweilt sich unberührt am Firmeneingang.
Eine Tendenz stimmt allerdings bedenklich: das Lohn- oder Honorarniveau im kreativ-künstlerischen Bereich sinkt auf breiter Front. Der Billig-Designer und Discount-Texter ohne ausreichende soziale Absicherung sind längst Teil der Wirklichkeit in dieser schönen neuen Erwerbswelt und damit für künftige Generationen vielleicht ein zu geringer Ansporn, sich für die berufliche Nutzung des „Rohstoff renegenerative Geisteskraft“ zu engagieren. (Quelle Zahlen: http://www.kreativwirtschaft-deutschland.de/Portals/0/RWKI-I.pdf)