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Politische Modernisierung durch Medien?

Über Kommunikation und Partizipation im Internet

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Das „Web 2.0“ ist die jüngste Ausformung individualisierter Massenkommunikation – wichtig ist „user content“, die Botschaft des Einzelnen, die den Filter herkömmlicher Massenmedien umgeht. Dass damit sowohl die politischen Instanzen (Parteien und Parlamente) als auch die Türsteher der Massenmedien übergangen werden können, ist die politische Innovation durch das Internet.

Zwischen Palaver und effektiver Kontrolle

Die freilich durchaus ambivalent ist. Eine nur in der Präsidialkultur der Vereinigten Staaten mögliche Variante war die Direktansprache Barack Obamas via (www.recovery.gov) und per Minutenbotschaften in Youtube an seine Grassroots-Aktivisten. "Wir können den amerikanischen Traum am Leben halten", verkündete Obama, "aber nur, wenn die Menschen dies auch wirklich einfordern“. Die Massenpredigt war das Machtmittel eines Präsidenten, der im Kongress schon Lehrgeld gezahlt hatte, wo sein Recovery-Programm beschnitten und umgebogen worden war. Der Quereinsteiger ins Weiße Haus mobilisierte nun gegen den „Beltway“, den oftmals autistischen Politikbetrieb in Washington D.C., der von Lobbies, Denkfabriken, seriellen Umfragen und bezahlten Nebelwerfern beherrscht bleibt. An die Stelle der Zuschauerdemokratie trat der vom Weißen Haus aufgerufene Smart Mob, der Massenmails an konservative Abgeordnete versendet, rund um die Uhr bloggt und per Internet wieder mal ein nationsweites Town Hall Meeting inszeniert.
Gut, dass wir (virtuell) darüber geredet haben? Oder entsteht hier doch eine nachhaltige und verantwortungsvolle fünfte Gewalt, die über Umwelt nicht nur palavert und dem Klima effektiv nützt? Das Internet tritt hier erst einmal als herkömmliches Massenmedium an, in dem ein charismatischer Präsident (aber natürlich auch jeder Bonapartist) seine Botschaft unter die Leute bringt. Obama sagte aber einen bemerkenswerten Satz: "Ihr werdet sehen, wo euer Geld hingeht, ihr seid unsere Augen und Ohren." Damit forderte er die Basis auf, die weitere Entwicklung des Recovery-Programms zu verfolgen, sich also permanent einzumischen.
Damit öffnete er die Büchse der Pandora. Denn es entstand eine Plattform, die nicht nur Informationen „ins Netz stellt“, sondern sie auch mit anderen Nutzern zu teilen und Aktionen zu planen erlaubt. Netzwerke wie moveon.org sind so entstanden, nicht zuletzt ist darüber Obamas Wahlkampf finanziert worden (und Parteienfinanzierung ist ein ebenso heikler wie zentraler Aspekt politischer Partizipation). Wenn Bürger nun tatsächlich Zahlungen und Bauvorhaben aus dem Recovery-Programm in ihrer Gemeinde kontrollieren, kann das das übliche Mittel der „Akzeptanzbeschaffung“ sein, aber auch zum Instrument „kollaborativen Wissensmanagements“ werden, zu einer großen Schreibwerkstatt nach Wikipedia-Muster, wo die Weisheit der Menge auf Augenhöhe mit der Expertise der Berufspolitik und Verwaltungen ist.

Skepsis bleibt angebracht

Seit den 1990er Jahren, als Bill Clinton und vor allem Al Gore ähnliche Visionen hatten, hat das Internet das Versprechen einer Wiederbelebung der Demokratie in Normalzeiten nie einlösen und der „gefühlten Partizipation“ der Fernsehdemokratie nicht viel hinzufügen können, in denen der Bürger alles erfährt und überall dabei ist, aber auf der Couch hocken bleibt und die Berlusconis machen lässt. Die „neuen Medien“ setzen in vieler Hinsicht die Simulation und Manipulation der „alten Medien“ fort und übertreffen sie noch, da es an jeder Zertifizierung der Informationsflut mangelt. Stark waren und sind Netzmedien in außergewöhnlichen Zeiten politischer Mobilisierung (wie bei Wahlkampagnen) und in Ausnahmesituationen autoritärer Regime, wo sie im Iran, in China oder in Venezuela die Zensur umgehen und Meinungs- und Pressefreiheit herstellen helfen. In etablierten Mediendemokratien ist es hingegen fast immer gelungen, die von Bertolt Brechts in seiner berühmten Radiotheorie vorgedachte Interaktivität der Aktivbürger in die übliche Interpassivität zwischen PR-Abteilungen und dem apathischen Publikum zurückzuholen. Elektronischer Populismus schlägt die demokratische Agora, wobei auch im antiken Athen schon das Scherbengericht die gepflegte Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten verdrängte. Unter postdemokratischen Vorzeichen kann das populistischen Demagogen dienen, jener Kraft, die Colin Crouch zufolge „...außerhalb der geschlossenen Welt der politischen Eliten steht, die für und mit den Menschen spricht und der es gelingt, jener formlosen Masse in der Mitte der moderner Gesellschaften Identität zu verleihen.“
Damit wird das Internet nicht unbedingt zur Fehlanzeige. Barack Obamas virtuelles Angebot ist ja, die momentane, oft irrlichternde Mobilisierung der Kampagne in der gegenwärtigen Ausnahmesituation in das politische Alltagsgeschäft hinein zu verstetigen, und dabei wird übrigens auch ein „Green New Deal“ ausgerufen. Ob Internetplattformen interaktiv sind und klimapolitisch relevant werden, hängt nicht von ihrer Medialität ab, von der viele Digerati so fasziniert scheinen, sondern von den Kräften in der Bürgerschaft, die den Bildschirm häufiger ausschalten und in der wirklichen Welt tätig werden.
Eine Webseite ist, auch wenn es viele meinen, noch kein Mittel gegen Klimawandel. Aufbau und Betrieb verursachen nüchtern betrachtet erst einmal nur weitere Treibhausgase. Ein Medium ist ein Medium ist ein Medium – wofür also?

Autor: Prof. Dr. Claus Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

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Foto: Eckart Waage / © studio b music GmbH

Urnengang

Für Meinungsforscher waren die letzten Jahre wahrlich keine leichte Zeit, wenn es darum ging das Wahlverhalten der Bevölkerung im Vorfeld eines Urnenganges vorherzusagen – und ein Ende dieser Misere scheint vorerst nicht in Sicht. Der Wähler im 21. Jahrhundert ist im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbar geworden. Er entscheidet kurzfristig, ob er überhaupt zur Wahl geht, und falls ja, wem er seine Stimme gibt, er wechselt er seine Parteipräferenzen gerne und häufig und kurzfristige Momente und Stimmungen sind Grundlage seiner Wahlentscheidung. Lange Zeit konnten die Umfrageinstitute mit den klassischen Theorien des Wählerverhaltens Stimmverteilungen recht genau prognostizieren. Denn bis weit in die Moderne hinein hatten sich in der Bevölkerung starke kollektive Bindungen erhalten, so die Solidarität der Arbeiterklasse oder die dörflich-kirchliche Gemeinschaft, die durch stabile soziale Milieus gekennzeichnet waren, welche wiederum prägenden Einfluss auf das politische Verhalten hatten. Und während sich die Bürger bis in die sechziger Jahre hinein noch nach Maßgabe ihrer sozioökonomischen Gruppenzugehörigkeiten an eine Partei banden, verblasste dieser gewohnheitsmäßige Charakter politischer Bindungen in den folgenden Jahrzehnten zunehmend. Zu dieser Entwicklung hat neben konstantem wirtschaftlichen Wachstum vor allem der Ausbau des Sozialstaates und die damit verbundene nachhaltige Steigerung des Wohlstands beigetragen, denn in ihrer Folge sank die Notwendigkeit der Einordnung in soziale Vergemeinschaftungen. Eine ebenso bedeutsame Rolle spielten die Bildungsexpansion in den sechziger und siebziger Jahren und die zunehmende Verbreitung elektronischer Massenmedien. Im Ergebnis dieser Entwicklungen waren die inzwischen höher gebildeten und besser informierten Bürger schon eher in der Lage, sich ein eigenständiges politisches Urteil zu bilden, unabhängig von sozialen Großgruppen wie Gewerkschaften oder Kirchen. Die Folge : ein Wahlverhalten der Bürger, das durch eine stärkere Bedeutsamkeit situativer oder emotionaler Faktoren und kurzfristiger Momente weniger kalkulierbar wird.
Im Umkehrschluss gewinnen Wahlkämpfe an Bedeutung, denn wo enge Bindungen an eine Partei fehlen, die Gründe für eine bestimmte Wahlentscheidung emotional, stimmungsabhängig und möglicherweise geprägt von persönlichen Sympathien gegenüber dem Kandidaten sind, entsteht ein enormes Wirkungspotential für die Wahlkampagne. Der modernisierte Wahlkampf setzt daher auf eine marketingfokussierte Ausrichtung der politischen Kommunikation: Wähler sind heute mehr und mehr Kunden und die Parteien nehmen die Hilfe von Werbeagenturen in Anspruch. So macht sich die Wahlwerbung Erkenntnisse der Werbepsychologie zu Nutze, die den Parteien dabei helfen, ihre Strategien zu optimieren. Den ehemals kurzfristig angelegten, dezentral organisierten und von lokalen Parteistrukturen getragenen Wahlkämpfen stehen heute zentral geplante Kampagnen gegenüber, die den Bedürfnissen einer individualisierten, differenzierten und medial vernetzten Massengesellschaft weit besser gerecht werden.
(Peter Brück, Universität Münster)

Wissenswertes

Aneignung der Wiki-Kultur

Internet-Veteran Dan Froomkin (Nieman Foundation/Harvard) witterte Morgenluft: "Wichtige Gesetzgebungsverfahren könnten in einem öffentlichen Raum organisiert werden, in dem die Menschen zusammenarbeiten können." (SZ 18. Februar 2009)

Alternativ: Vor-Ort

Agenda-Gespräche bieten Raum und Gelegenheit um miteinander zu beraten und neue Wege und Lösungen für die Gestaltung der Zukunft finden. Sie nutzen das Wissen und die Erfahrung der Menschen vor Ort.
www.agenda-forum-essen.de

Im globalen Dorf

Medientheoretiker McLuhan argumentierte schon 1964, dass die ‚Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas sei. Er verstand die Veränderungen von Medien als wesentliche Ursache für soziale Veränderungen.