Stadtplanung und Städtebau stehen im 21. Jahrhundert vor neuen Herausforderungen. Sie müssen Antworten auf die Frage geben, was im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Zukunftssicherheit vorrangig gefördert werden muss - und nicht, was alles sonst noch wünschbar oder möglich ist. Bewohner, Arbeitnehmer und Unternehmen wird man dauerhaft nur durch Bleibeanreize in der Region halten können. Der Masterplan Emscher-Zukunft macht Ernst mit der Attraktivitätssteigerung des Standorts Ruhrgebiet. Im Mittelpunkt steht die Verbesserung der Lebensqualität im Umfeld von Arbeiten, von Wohnen und Erholen. Lohnwert. Wohnwert. Freizeitwert: Das sind die zukunftsweisenden Indikatoren für die urbane Lebensqualität von morgen. Es zeichnen sich derzeit eine Reihe von Zukunftsperspektiven ab, die unser Leben in den Städten und Regionen von morgen grundlegend verändern werden.
Zukunftsperspektive 1: Immer mehr Singles und Senioren wollen in zentraler Lage wohnen
Immer mehr Menschen leben und wohnen allein. Single-Haushalte breiten sich in den Städten aus. Selbst an den Stadträndern werden Einfamilienhäuser zu Einpersonenhäusern. In Deutschland leben mehr als elf Millionen Menschen ohne Partner. In den Großstädten ist jeder Dritte allein. Das Geschäft mit den Singles boomt. Die Singles stellen neben den Senioren die attraktivste und lukrativste Zielgruppe in einem neuen Dienstleistungsmarkt dar.
Zukunftsperspektive 2: Das Eigentumsdenken verändert sich: Städter mieten Lebensstile
So genannte "Lifestyler" breiten sich aus, die nur das Gefühl haben wollen, wie im eigenen Haus zu wohnen - ohne die lästigen Verpflichtungen, die mit Eigentum verbunden sind. So entsteht eine Art Privatopia, in dem die Menschen Lebensstile und nicht nur Wohnhäuser kaufen. Wer neue Gleichgesinnte sucht, wählt eine Interessen-Wohnanlage auf Zeit. Hier werden Lebensstile in Beton gegossen. Deutschland wird in Zukunft zum Mieterland. Mietwohnungen werden bei uns immer attraktiver, denn Mieter können sich schließlich mehr leisten, während Wohnungseigentümer oft hoch belastet über viele Jahre sparsam leben müssen. Apartment- und Reihenhäuser werden tendenziell freistehende Einfamilienhäuser verdrängen.
Zukunftsperspektive 3: Soziale Polarisierung: Städtische Unterschichten sorgen für Konflikte
Die soziale Polarisierung in den Städten verstärkt sich, weil sich dort die "Vier A" - Arme, Alte, Arbeitslose und Ausländer - konzentrieren. Für die Zukunft ist zu befürchten, dass sich Parallelwelten nach eigenen Regeln bilden bzw. Inseln außerhalb des gesellschaftlichen Grundkonsenses. Ein Großteil der künftigen Integrationsprobleme werden im Kern Generationskonflikte sein. Als neuer Standortfaktor kommt in Zukunft die örtliche Toleranz für ethnische Minderheiten hinzu. Toleranz als Ausdruck für ein soziales Klima der Offenheit spielt dann neben den harten Standortfaktoren wie Infrastruktur und Arbeitsplätzen als weicher Standortfaktor zwischen Kultur und Subkultur eine zentrale Rolle.
Zukunftsperspektive 4: Wohnungsunternehmen werden zu sozialen Dienstleistern
Im Jahr 2030 wird die Mehrheit der über 60-Jährigen nicht verheiratet, sondern ledig, verwitwet oder geschieden sein. Die meisten leben in Ein-Personen-Haushalten und sind dann, wenn sie kinder- und enkellos bleiben, auf den Auf- und Ausbau einer professionellen Infrastruktur von Hilfe- und Pflegeleistungen angewiesen. Immobilienbranche und Wohnungsunternehmen bieten in Zukunft auch ein soziales Management an, das vor allem soziale Dienste für die wachsende Zahl alter und hochaltriger Menschen leistet. Diese sozialen Dienstleistungen, wozu Altenbetreuung, Mietschuldenberatung, Beschäftigungsprojekte, Nachbarschaftshilfsvereine und Tauschringe gehören, werden wie ein sozialer Kitt wirken. Soziales Wohnungsmanagement kann auch in ökonomischer Hinsicht erfolgreich sein. Denn die Alternative heißt nicht etwa: Wirtschaftlichkeit oder Sozialverträglichkeit. Die Erfolgsformel lautet eher: Wirtschaftlichkeit durch Sozialverträglichkeit!
Zukunftsperspektive 5: Nachbarschaftshilfen werden immer bedeutsamer
Ein Comeback der guten Nachbarn steht bevor. Die Städter entdecken die lebendige Nachbarschaft als Netzwerk wieder. Institutionelle Hilfeleistungen durch Behörden, Vereine und Verbände haben im Alltagsleben der Bevölkerung eine viel geringere Bedeutung als die spontane Hilfsbereitschaft in den eigenen vier Wänden, vor der Haustür oder um die Ecke. Die Selbsthilfegesellschaft ist keine Utopie mehr, es gibt sie wirklich.
Zukunftsperspektive 6: Generationen unter einem Dach: Wohnen mit Wahlfamilien
Neue Wohnkonzepte geben in Zukunft konkrete Antworten auf die Folgen einer Gesellschaft des langen Lebens. Dabei geht es auch um Alternativen zu den traditionellen Pflegeheimen. Gefragt sind in Zukunft vor allem generationsübergreifende Wohnkonzepte: Wie im Dorf und doch in der Stadt. Ganze Großfamilien - Enkel, Kinder, Eltern, Großeltern - leben so in unmittelbarer räumlicher Nähe zusammen. Generationenwohnen in Baugemeinschaften und Wohngenossenschaften ist im Trend. Im 21. Jahrhundert entstehen durch eine Art Adoption neue Wahlfamilien: Enkel-, Kinder- und Familienlose werden wie durch Adoption in Wahlfamilien und -verwandtschaften aufgenommen. Gleichzeitig wird der Familienbegriff um den Gedanken des "ganzen Hauses" erweitert.
Zukunftsperspektive 7: Altwerden mit Familie und Freunden statt Einweisung ins Heim
Bis ins hohe Alter Verantwortung für das eigene Befinden tragen, sich weitgehend selber helfen können, um anderen nicht zur Last zu fallen, das wird die neue Solidarität, die neue soziale Verantwortung im 21. Jahrhundert sein. Die Senioren von morgen wollen sich nicht mehr an die Stadtränder abschieben oder isolieren lassen und schon gar nicht vom Leben verabschieden. Sie wollen kommunikativ leben und auch helfen - mit und für Generationen leben. Die positiven Erfahrungen aus den skandinavischen Ländern beweisen, dass ein Land fast ohne Heime auskommt. Schafft die Altersheime ab! Oder: So wenig Heime wie möglich! Das ist auch für Deutschland eine realistische und keine utopische Zukunftsforderung.
Zukunftsperspektive 8: Lebenswerte Städte und Regionen als Leitbilder der Zukunft
Wenn Städte und Regionen eine Zukunft haben wollen, können sie sich nicht nur als Wirtschaftsstandort profilieren. Sie müssen mehr bieten als Büros und Industrieanlagen. Genauso wichtig ist es daher, durch Binnenmarketing ein positives Selbstbild der Bevölkerung zu erzeugen. Gastfreundlich. Weltoffen. Tolerant. Dies gilt auch und gerade für die Emscherregion, die auf neue weiche Standortfaktoren im Umfeld von Freizeit, Natur und Lebensqualität setzt, vom Wohnen am Wasser bis zur Belebung der Nachbarschaft. Der Masterplan Emscher-Zukunft macht Lust auf Zukunft, weil das wachsende Wohlfühlen der Bewohner wichtiger als das Wehklagen über Wanderungsverluste ist. Ganz im Gegenteil: Aus dem Wohnwert von heute können Wanderungen von morgen werden.
Gekürzte Fassung erstellt: 27.01.2009 // 7.196 Zeichen inkl. Leerzeichen
Text: Prof. Dr. Horst W. Opaschowski / © Emschergenossenschaft